Menschenrechtsverletzungen anprangern: Das 4. Human Rights Film Festival Berlin


Keyvisual HRFFB

Der Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan wurde nicht nur von Solidaritätsbekundungen mit den Familien und Ortskräften vor Ort begleitet und dem Ruf nach internationaler Hilfe. Er ging auch mit Diskussionen um die Sinnhaftigkeit militärischer Einsätze einher – und es wurden genügend Stimmen laut, die ein Ende westlicher, militärischer Einmischung die innenpolitischen Konflikte anderer Länder forderten. Ein Ende westlicher Hybris, die meint, Menschen erklären zu müssen, wie man leben muss. In dieser thematischen, hoch politisierten Gemengelage findet dieses Jahr einmal mehr das Human Rights Film Festival Berlin (HRFFB) mit seinem Fokus auf Menschenrechtsverletzungen vom 16. bis 25. September statt. Das HRFFB befindet sich bei ethisch-moralisch geführten Diskussionen dieser Art naturgemäß eher zwischen den Stühlen: Es will einerseits aufklären über Menschenrechtsverletzungen weltweit und ihnen ein Ende machen – und ist dabei natürlich nicht ausgenommen von potentiell bevormundenden (Sprach)handlungen – thematisiert aber andererseits durchaus, welche konkreten Folgen westliche Interventionen und imperialistisches Denken haben können. Ambivalenz wohnt also dem Festival inne, wobei sie natürlich nicht den Beitrag schmälert, den das Human Rights Film Festival Berlin in der Hauptstadt (und dank digital gezeigter Filme auch national) vor allem leistet, und der da heißt: Sensibilisierung. Denn, was wäre die Alternative zum Zeigen dieser wichtigen Bilder? Sie verbergen? Wegschauen?

40 Filme zeigt das 4. Human Rights Film Festival Berlin unter dem Motto „The Art of Change“ mit Fokus auf Aktivist*innen, die gegen Unrecht kämpfen, darunter Filme, die teilweise schon vorab für Furore sorgten. Dazu gehört der Eröffnungsfilm, SABAYA, von Regisseur Hogir Hirori über eine Gruppe von Männern und Frauen, die ihr Leben riskieren, um jesidische Frauen und Mädchen aus der IS-Sklaverei zu befreien, und der beim Sundance als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde, aber auch David Frances vielfach bei der Berlinale 2020 prämierter WELCOME TO CHECHNYA. Insgesamt feiern 13 der Filme beim HRFFB ihre Deutschlandpremiere und 12 ihre Berlin-Premiere. Die Partner des Festivals, Save the Children und Amnesty International, steuern ergänzend spezielle Filmreihen bei. Mit den Filmen A MAN CAN MAKE A DIFFERENCE, WATCHERS OF THE SKY und NIGHT WILL FALL gibt es zudem erstmals eine Retrospektive zu sehen, die dem Juristen Benjamin Ferencz, dem Chefankläger der Nürnberger Prozesse, gewidmet ist.

Wie in den Vorjahren möchte das HRFFB auch die drei großen Themen des Festivals, Demokratie, Freiheit und Menschenrechte, in einem kostenlos zugänglichen, hybriden Konferenz- und Diskussionsformat mit offenen Diskussionen, Workshops und Pitches: dem „Human Rights Forum: Die Kunst des Storytellings“ (20. bis 23. September 2021) als interdisziplinäre Plattform rund um die Themen Storytelling, Aktivismus und Menschenrechte, wieder vertiefen. Zu den Expert*innen aus Filme- und Medienmacher*innen, Künstlerinnen, Aktivistinnen, NGO-Mitarbeitende und Wissenschaftler*innen gehören Staatsministerin Michelle Müntefering (die das Forum eröffnet), Wim Wenders, Ece Temelkuran (türkische Journalistin), Lotte Leicht (Human Rights Watch), Aya Chebbi (pan-afrikanische Feministin), Graeme Smith (Kriegsjournalist und Autor), Katja Riemann (Regisseurin und Schauspielerin) und Andrew Gilmour (Berghof Foundation). Auch Filme werden im Rahmen des Forums gezeigt, zum Beispiel Katja Riemans Regiedebüt … AND HERE WE ARE über das „ReFOCUS Media Lab“ im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos, in dem junge Geflüchtete seit 2018 lernen, ihre Sicht auf die Welt visuell zu vermitteln.

Begleitet werden Festival und Forum außerdem noch durch eine Foto-Ausstellung in Kooperation mit der BUFA und der Interactive Media Foundation.

Marie Ketzscher

BFF-Autor Alexander Wolff hat sich im Programm des HRFFB umgeschaut und empfiehlt im Besonderen die folgenden Filme:

SHADOW PLAY © Java Films

SHADOW GAME

Darum geht es
Wie viel Druck braucht es, bevor der Körper eines 14-Jährigen aufgibt? Dieser Frage geht die Flüchtlingsdokumentation SHADOW GAME in den Wäldern Serbiens, den Bergen Frankreichs, auf den Straßen nach Italien, an den Grenzflüssen zu Slowenien nach. Das Filmteam begleitet die Jugendlichen in die gefährlichen Camps des ewigen Wartens, an lärmumtoste Schlafplätze unter Bahnbrücken, an Klingendraht-gesicherte Edelstahlzäune, beim lachenden Schuhkauf vor dem neunten Versuch nach Ungarn zu kommen und beim nächtlichen Beinahe-Ertrinken auf dem Weg nach Slowenien. Der jugendliche Optimismus der Hauptfiguren deutet all das zu einem großen Spiel um. Verlieren sich Brüder, wird der einzige Freund von der Polizei geschnappt, gefoltert, dann weicht kindliche Dickköpfigkeit schierer Verzweiflung. Bis der nächste 30-Kilo-Rucksack gepackt und „the Game“, wie es die Jugendlichen nennen, weitergeht.

Was du zum Film wissen musst
Trotz der unmenschlichen Verhältnisse schafft es SHADOW GAME das Problem dank seiner fantastischen Protagonisten auch für jüngere Menschen greifbar zu machen, etwas das ambitionierte Kursleiter in der Oberstufe mancher Schule zu schätzen wissen werden. Das Taxi-Game, das Truck-Game, das Train-Game – die niederländischen Filmemacher Eefje Blankevoort und Els van Driel waren auf den beschwerlichen Wegen hautnah dabei. Aus Unmittelbarkeit und wackelig-stolzen Social Media-Videos ihrer Protagonisten zeichnen sie ein umfassendes und aufwühlendes Bild der Anstrengungen, die unbegleitete Kinder auf ihrem Weg nach und durch Europa täglich auf sich nehmen. Das gab zurecht nicht nur eine 90-minütige Dokumentation her. Die begleitende Webserie und ein Online-Spiel geben einer Tragödie eine eindringliche Stimme, die im Dauerfeuer globaler Dramen fast nicht mehr zu vernehmen ist und sich dabei vor unserer Haustür abspielt. – AW

MAYOR © Film Movement

MAYOR

Darum geht es
Musa Hadid ist zu beneiden und zu bedauern. Bei jedem einzelnen seiner Termine merkt man dem Bürgermeister von Ramallah, der palästinensischen De-facto-Hauptstadt, die tiefe Liebe zu seiner Stadt und ihren Bewohnern an. Nur liegt Ramallah in der seit 1967 von Israel besetzten West Bank, umringt von israelischen Siedlungen. Weil den Palästinensern das Land nicht gehört, sondern von Israel verwaltet wird, ist es Hadid praktisch unmöglich, die strukturellen Probleme seiner Stadt anzugehen. In der Dokumentation MAYOR begleitet der amerikanische Filmemacher David Osit den beliebten Bürgermeister während einer besonders schwierigen Zeit: Donald Trump hat soeben die Verlegung der US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem erklärt.

Was du zum Film wissen musst
Auch wenn wir mit einem Mal mittendrin sind in den tödlichen Zusammenstößen zwischen Armee und Palästinensern, stehen sie nicht im Vordergrund. Vielmehr ist Trumps Entscheidung beispielhaft dafür, wie das Leben Hadids und seiner Stadt von der Politik und den Entscheidungen anderer bestimmt wird. In Treffen mit deutschen Delegationen, bei Dinnerabenden in Oxford oder New York hält Hadid leidenschaftliche Reden gegen die Fremdbestimmung. Was er im Gegenzug bekommt, ist wohlwollende Symbolpolitik in Form von Kunst- und Sportprojekten. Es ist David Osits Verdienst, dass in MAYOR die Sehnsucht nach Souveränität und Würde greifbar werden und dabei die Leichtigkeit und Lebensfreude dieser Stadt der Gegensätze nie verloren gehen. – AW

WELCOME TO CHECHNYA © Public Square Films

WELCOME TO CHECHNYA

Darum geht es
2017 wird bei Drogenrazzien im überwiegend muslimischen Tschetschenien pornografisches Material gefunden. Von der Weltöffentlichkeit marginal wahrgenommen und von Russland geleugnet erlebt das Land seither die massenhafte Verhaftung, Folterung und Tötung von Schwulen und Lesben. Die HBO-Dokumentation WELCOME TO CHECHNYA ist die Geschichte der Opfer dieser systematischen Verfolgung und der russischen LGTBQ-Aktivisten, die manche von ihnen auf abenteuerlichen Wegen aus dem Land bringen und vor dem sicheren Tod bewahren. Mit versteckten Kameras und innovativer Deepfake-Technologie, die die Opfer vor weiterer Verfolgung schützen und dem Publikum dennoch einen Zugang zu ihnen erlauben soll, wird besonders die Odyssee von Maxim Lapunov beleuchtet. Nach der Flucht samt Familie und Partner und unter Lebensgefahr entschließt er sich, den Tschetschenischen Staat und Präsident Ramsan Kadyrow anzuklagen.

Was du zum Film wissen musst
David Frances WELCOME TO CHECHNYA erlaubt dem Zuschauer keine Ruhepause. Die nüchternen Erzählungen, grauenvollen Augenzeugenberichte und von Aktivisten abgefangene Videos der entmenschlichenden Folter sind schwer zu ertragen und bleiben auch nach dem Schauen lange im Gedächtnis. Der amerikanische Autor, Journalist und Filmemacher David France zeigt die ungeschönte Realität eines andauernden Pogroms. Zugleich ist WELCOME TO CHECHNYA das eindringliche Dokument eines unerschrockenen Aktivismus und selbstlosen Mutes, der zumindest aktuell das einzige Mittel im Kampf gegen institutionalisierten Hass und weitgehende Gleichgültigkeit zu sein scheint. – AW