Sich für die Menschlichkeit entscheiden: 7. Human Rights Film Festival Berlin


NO OTHER LAND © Basel Adra, Hamdan Ballal, Yuval Abraham, Rachel Szor
NO OTHER LAND © Basel Adra, Hamdan Ballal, Yuval Abraham, Rachel Szor

Es ist schwer, gerade den Überblick zu behalten, welche Krisen und Kriege stattfinden, wo die nächste Eskalation droht. Die subjektive Aufmerksamkeitsspanne ist schließlich begrenzt und bubble-bedingt liegen die Augenmerke und Solidaritäten oft bei bestimmten Konflikten und Menschen. Gut, dass es das von Aktion gegen den Hunger organisierte Human Rights Film Festival Berlin gibt, das die Gleichzeitigkeit der derzeit weltweit stattfindenden Menschenrechtsverletzungen zumindest kurz, und zwar dieses Jahr vom 4. bis 12. Oktober, parallel ins Spotlight rückt. Und nicht zwischen ihnen priorisieren will. „Choosing Humanity“ ist dann auch das diesjährige Motto – sich bewusst für Menschlichkeit entscheiden.

Eröffnet wird das Festival von Conny Fields DEMOCRACY NOIR, der drei Aktivistinnen in ihrem Kampf gegen die autokratischen Strukturen in Ungarn und für die Demokratie porträtiert. Auch in diesem Jahr hat das Festival eine Schirmherrschaft ausgelobt – in diesem Jahr wird sie von Can Dündar ausgeübt, der zu den bekanntesten türkischen Journalisten und Filmemachern gehört und inzwischen im Exil in Berlin lebt. Von ihm wird auch der Film GUARDIANS OF TRUTH: JULIAN ASSANGE AND THE DARK SECRETS OF WAR gezeigt, die den Prozess um den Wikileaks-Gründer Assange ein halbes Jahr vor seiner Freilassung begleiten. Neben hier bereits in Deutschland gestarteten Filmen wie PETRY KELLY – ACT NOW! und HAUSNUMMER NULL richtet sich der Blick der 25 gezeigten Filme unter anderem auf den schrecklichen Zustand der Immigration Detention Center in den USA (AN HOUR FROM THE MIDDLE OF NOWHERE von Ole Elfenkaemper und Kathrin Seward), die persönlichen Geschichten entlang der Flüchtlingsrouten in Belarus (FOREST von Lidia Duda) und die Seenotrettung (SAVE OUR SOULS von Jean-Baptiste Bonnet). Auch die Widerständigkeit der Kunst rückt in den Vordergrund: Mit WE WON’T SHUT UP A FILM FOR FREEDOM von Claudia Arribas Villà, Violeta Octavio Roca und Carlos Juan Martínez über die Einschränkung der Meinungsfreiheit nach der Verabschiedung eines Gesetzes zur Terrorbekämpfung, die drei katalanische Rapper am eigenen Leib zu spüren bekamen; oder auch DRAWING A LINE von Sama Pann über die Illustratorin Rachita Taneja, die mit ihren Comics die politischen Entwicklungen in Indien anprangert.

Sieben Wettbewerbsfilme konkurrieren um den mit 3.000€ dotierten Willy-Brandt-Dokumentarfilmpreis für Freiheit und Menschenrechte. Neben dem Filmprogramm gibt es außerdem noch kostenlos zugängliche Talks und ein Schulprogramm.

In der Folge haben wir ein paar Tipps aus dem Programm versammelt.

NO OTHER LAND

NO OTHER LAND © Basel Adra, Hamdan Ballal, Yuval Abraham, Rachel Szor

Regie: Basel Adra, Hamdan Ballal, Yuval Abraham und Rachel Szor

Darum geht es:
Das palästinensisch-israelische Filmkollektiv dokumentiert die Menschenrechtsverletzungen durch die israelische Siedlungspolitik und militärische Kontrolle im Westjordanland. Adra lebt dort mit seiner Familie und beginnt im Jahr 2019 gemeinsam mit Abraham, das Vorgehen der Militärverwaltung in seinem direkten Umfeld zu filmen. Ihr Filmmaterial berichtet von der Vertreibung der palästinensischen Landbevölkerung und offenbart die Räumung und Zerstörung von Häusern mit Baggern und Bulldozern, Angriffe von bewaffneten israelischen Siedlern und die Einrichtung von Notunterkünften für vertriebenen Familien in Höhlen. Alle gezeigten Vorgänge fanden im Zeitraum zwischen 2019 und 2023 statt und endeten vor dem Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023.

Was du zum Film wissen musst:
Der Dokumentarfilm agiert als aktivistisches Kino und eröffnet einen kritischen Diskussionsraum über den seit Jahrzehnten bestehenden Konflikt. Die palästinensisch-israelischen Journalist*innen zeigen die Machtasymmetrie in der Region Masafer Yatta aus der Perspektive der davon betroffenen palästinensischen Zivilbevölkerung. Bei der diesjährigen Berlinale, wo der Film mit dem Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet wurde, sorgte diese unmittelbare Herangehensweise für scharfe Kritik. Während einige Medien ihrem historisch bedingten Bias gegenüber der Kritik am israelischen Staat folgten, duckten die Berlinale und die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien sich mit leeren Phrasen weg, um bloß nicht politisch Stellung beziehen zu müssen. Dabei verdeutlicht NO OTHER LAND genau eine große Stärke der (Film)Kunst an sich: die Eröffnung von ambivalenten Räumen, welche Perspektiven ermöglichen, die nicht zwangsläufig den eigenen entsprechen müssen. -HK

PETRY KELLY – ACT NOW!

© Bildersturm Filmproduktion / Mit Genehmigung von Archiv Grünes Gedächtnis der Heinrich-Böll-Stiftung

Darum geht es:
Das Leben, Wirken und das Vermächtnis der Ausnahmepolitikerin Petra Kelly – die als Mitgründerin der Grünen, Anti-Atom-Aktivistin, Kämpferin für indigene Stimmen und radikal-empathische Feministin so wichtige Impulse gesetzt hat. Der Film widmet sich wichtigen Stationen, neuralgischen Sozialisationsmomenten und prägenden Figuren ihrer Biografie, beginnend bei ihrer engen Bindung zu Mutter und Großmutter und ihrem zerrissenen Aufwachsen in den USA bis hin zur schicksalshaften Beziehung mit Gert Bastian, der sie schließlich im Schlaf ermorden sollte (lange galt ihr Dahinscheiden romantisiert als „Doppelselbstmord“; damit räumt der Film Gott sei Dank auf). In den USA, besonders in ihrer Zeit als Wahlkampfhelferin für den demokratischen Nixon-Kontrahänten Hubert Humphrey und für Robert Kennedy, wuchsen in Kelly die Samen heran, die ihr politisches Wirken bis zum Ende beeinflussen sollten: Ihr unbedingter Glaube an gewaltfreien Protest und an die Kraft der Bewegung der Bürger*innen auf der Straße – hinzu kam ihre eigene Getriebenheit, sich unermüdlich gegen Ungerechtigkeiten einsetzen zu müssen.

Was du zum Film wissen musst:
Doris Metz ist mit ihrem Dokumentarfilm ein beeindruckendes Biopic gelungen, das vor allen der unverwechselbaren Stimme Kellys viel Platz einräumt – immer wieder hören wir Archivmaterial, werden Briefe gelesen, überschlagen sich sogar noch im Abspann ihre mit so großer Dringlichkeit formulierten Überzeugungen, die jeglicher Polemik entbehren. Der Film zeigt aber auch nachdrücklich, wie schwierig es Frauen im politischen Betrieben hatten und haben, wenn sie sich so kompromisslos wie Kelly für gewaltfreien Dialog und Abrüstung (beeindruckend und legendär ihr Besuch in DDR bei Honecker, aber auch bei den Bürgerrechtler*innen um Bärbel Bohley) einsetzen oder sich nicht in das Mühlen des parlamentarischen Alltags einfügen können und wollen. Der Film zeichnet aber auch nach, wie die Grünen zum Establishment wurden, wie aus Maximalforderungen kleine Kompromisse wurden – die heute viele Anhänger*innen einer grünen Idee eher in Die Letzte Generation & Co. ihre Bündnispartner*innen vermuten lässt. Aber auch über die hässliche Fratze des Menschseins (die oft in Bewegungen noch viel unmittelbarer erlebt wird) erzählt der Film viel: Als hysterisch wurde Pelly verunglimpft, bei Parlamentssitzungen verlacht, direkt auf Veranstaltungen verbal angegangen, sie erhielt Morddrohungen; alles strotzte vor sexistisch motiviertem Hass. Und, das ist das eigentlich Unglaubliche an ihrer Person: Sie wurde dennoch nicht stumpf, behielt ihre Sensibilität und Empathie. „Sie hatte keinen Filter“ sagen ihre Freunde über sie – und das ist, trotz persönlicher Tragik, vor allem ein riesiges Kompliment. – MK

NOCH BIN ICH NICHT, WER ICH SEIN MÖCHTE (JEŠTĚ NEJSEM, KÝM CHCI BÝT)

Noch Bin Ich Nicht Wer Ich Sein Möchte © Libuše Jarcovjáková
Noch Bin Ich Nicht Wer Ich Sein Möchte © Libuše Jarcovjáková

Regie: Klára Tasovská

Darum geht es:
Die Fotografin Libuše Jarcovjáková wuchs in der Tschechoslowakei auf, die sich nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 in der repressiven Phase der „Normalisierung“ befand. In Prag suchte sie nach Möglichkeiten, um den staatlichen Repressionen zu entkommen und ihre sexuelle Identität ausleben zu können – immer mit ihrer Kamera im Gepäck. Einer dieser „Safe Spaces“ war der T-Club, ein Treffpunkt für die queere Szene. Eine Scheinehe gab ihr die Möglichkeit, nach Westberlin zu ziehen. Von dort ging es nach Tokio, wo sie sich zeitweilig als gefragte Modefotografin etablieren konnte. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs kehrte Libuše schließlich nach Prag zurück.

Was du zum Film wissen musst:
Für I’M NOT EVERYTHING I WANT TO BE kollaboriert Libuše Jarcovjáková mit der Filmemacherin Klára Tasovská und berichtet auf lebhafte Weise von ihrer wilden Zeit und der Suche nach Freiheit. Anhand ihrer Tagebucheinträge, die sie selbst vorliest, erschließt sich ihre ganz persönliche Geschichte zwischen politischen Konflikten, Körperlichkeiten und Beziehungen. Anhand einer Vielzahl von analogen Fotografien, die Libuše aufgenommen und in ihrem Archiv aufbewahrt hat, wird diese Identitätssuche verbildlicht und zeigt faszinierende Geschichten, die das Leben schreibt. -HK