Oscarverleihung 2025 – ein Rückblick

In der Nacht zum Montag wurden in Los Angeles zum 97. Mal die Oscars verliehen. Es war ein spannender Abend, da sich, im Unterschied zu den beiden zurückliegenden Awards-Seasons kein Frontrunner in Stellung gebracht hatte und sich das Rennen bis zum Schluss recht offen anfühlte.
Well, little did we know. Am Ende gab es doch einen sehr eindeutigen Gewinner und die Art, wie ANORA siegte, war dann doch bemerkenswert. Aber der Reihe nach.
Der Abend im Dolby Theater in Hollywood begann mit einer kurzen Würdigung des Veranstaltungsortes Los Angeles, das in den letzten Wochen durch schwere Waldbrände betroffen war, um dann in eine große Shownummer überzugleiten. Popsuperstar Ariana Grande sang „Somewhere Over The Rainbow“, den Klassiker aus THE WIZARD OF OZ, der 1939 als bester Original-Song den Oscar gewann und wurde dann von ihrer WICKED-Partnerin Cynthia Erivo abgelöst, die stimmlich nochmal ein ganz anderes Kaliber ist. Beide stimmten den WICKED-Signaturesong „Defying Gravity“ an, der nicht für den Oscar nominiert werden konnte, da er aus dem Broadway-Musical stammt.
Anschließend übernahm Conan O’Brien, der zum ersten Mal die Academy Awards moderierte und zunächst etwas Mühe hatte, seinen Vibe zu finden. Im Laufe der Show wurde O’Brien zusehends selbstsicherer und leistet sich hin und wieder auch einige moderate politische Seitenhiebe. Insgesamt hatte man sich in dieser Hinsicht aber mehr erhofft. Hollywood ist offensichtlich angesichts der rasanten (und dramatischen) Veränderungen der politischen Landschaft in Amerika verunsichert.
Stattdessen entschied man sich, die Show vor allem als eine Plattform zu nutzen, die vielen Filmschaffenden zu würdigen, die in der Regel nicht im Fokus der Öffentlichkeit stehen, ohne die aber kein Film möglich wäre. So wurden immer wieder die nominierten Kostümbildner, Kameraleute, MakeUp-Artists oder Production Designer von den Stars ihrer Filme gewürdigt. Eine schöne Idee, die eigentlich ins Konzept einer Preisverleihung passt, die eben nicht nur die Stars auszeichnet, die eh jeder kennt.
Was nun die Preise selbst angeht, blieb zunächst vieles im erwartbaren Rahmen. Kieran Culkin wurde für seinen Part in A REAL PAIN als bester Nebendarsteller ausgezeichnet und bedankte sich auf gewohnt wirre und amüsante Weise. Culkin hatte im Vorfeld alle wichtigen Nebendarstellerpreise abgeräumt. Der Blockbuster DUNE: PART TWO gewann wie erwartet zwei Oscars für seinen Sound und die visuellen Effekte. Das Musical WICKED konnte von seinen zehn Nominierungen ebenfalls zwei umsetzen und wurde, wie prognostiziert, für Ausstattung und Kostüme gewürdigt. In der Kategorie Dokumentarkurzfilm konnte Netflix seine Marktmacht ausspielen. THE ONLY GIRL IN THE ORCHESTRA hatte gegenüber seinen Mitbewerbern schlicht die größte Sichtbarkeit. Der Film ist auch nicht schlecht. Eine Auszeichnung des Films INCIDENT, der die Polizeigewalt gegen Afroamerikaner nachdrücklich thematisierte, wäre aber ein stärkeres Signal gewesen.
Immerhin setzte sich bei den Dokumentar-Langfilmen die palästinensisch-israelische Ko-Produktion NO OTHER LAND durch. Alles andere wäre auch ein Skandal gewesen. Die beiden jungen Filmemacher und Protagonisten des Films, Basel Adra und Yuval Abraham, nutzten die Bühne, um auf die andauernde Ungerechtigkeit im Westjordanland hinzuweisen und die gemeinsame Freundschaft zu beschwören, die ein Weg sein könnte – so hoffen sie – diesen jahrzehntelangen Konflikt einmal zu befrieden. Es war gewiss der politischste Moment der ganzen Show.
Eine Besprechung zu NO OTHER LAND findet ihr hier.
Eine kleine Überraschung gab es bei den animierten Kurzfilmen, wo sich die iranische Produktion IN THE SHADOW OF THE CYPRESS durchsetzte. Shirin Sohani und Hossein Molayemi nutzten die Ehrung, um auf die schwierige Lage ihrer Landsleute hinzuweisen. Auch bei den Live-Action-Kurzfilmen setzten sich nicht die offensichtlich politischen Filme A LIEN oder THE MAN WHO COULD NOT REMAIN SILENT durch, sondern mein Favorit, die niederländische Science Fiction Satire I AM NOT A ROBOT, in der eine Frau von einem nicht lösbaren Captcha zutiefst verunsichert ihre eigene Identität zu hinterfragen beginnt. Der Film von Victoria Wamerdam und Trent war der originellste nominierte Kurzfilm und soll demnächst ein Langfilm-Update bekommen, auf das man sehr gespannt sein darf.
Viel war im Vorfeld darüber spekuliert worden, wie wohl EMILIA PÉREZ abschneiden würde. Jacques Audiards Musical war mit 13 Nominierungen groß gestartet. Seine Oscarkampagne fiel aber nach Bekanntwerden rassistischer und islamophober Tweets seiner Hauptdarstellerin Karla Sofía Gascón in sich zusammen. Immerhin konnte die andere Hauptdarstellerin Zoe Saldaña ihr Momentum wahren. Sie wurde als erst dominikanische Schauspielerin als beste Nebendarstellerin ausgezeichnet und erinnerte in ihrer bewegenden Dankesrede daran, Kind hart arbeitender Einwanderer zu sein. Einen weiteren Oscar gewann EMILIA PÉREZ für den besten Original-Song „El Mal“, für den neben dem Songwriter-Duo Clement Ducol und Camille auch Regisseur Audiard einen Oscar bekam, da er einige Lyrics beigesteuert hatte. Dem Film blieb damit der zweifelhafte Ruhm verwehrt, als größter Loser in die Oscargeschichte einzugehen. Nur zwei Filme – THE TURNING POINT (1977) und THE COLOR PURPLE (1985) – gingen bei 11 Nominierungen komplett leer aus. EMILIA PÉREZ konnte zwar auch 11 seiner Nominierungen nicht in Oscars umsetzen, aber zwei gewonnen Oscars sind eben immer noch besser als nichts.
Eine Besprechung zu EMILIA PÉREZ findet ihr hier.
Ein Oscar, der EMILIA PÉREZ lange sicher schien, die Auszeichnung für den besten internationalen Film, gewann das brasilianische Drama FÜR IMMER HIER, das die Menschenrechtsverletzungen während der Zeit der brasilianischen Militärdiktatur thematisiert. Es war für Brasilien der fünfte und für Regisseur Walter Salles der zweite Anlauf nach CENTRAL DO BRASIL (1998). Brasilien ist damit nach Argentinien, das schon zweimal gewann, und Chile die dritte südamerikanische Filmnation, die diesen Award gewinnen konnte.
Auch für die baltische Filmnation Lettland gab es ein Novum. FLOW setzte sich in der Sparte Animierter Spielfilm durch und konnte damit die Blockbuster INSIDE OUT 2 und THE WILD ROBOT ausstechen. INSIDE OUT 2 ist nach LUCA (2021), TURNING RED (2022) und ELEMENTAL (2023) bereits der vierte Pixar-Film in Folge, der bei den Oscars leer ausging. Das ist die bislang längste Pechsträhne für das Studio, das einst diese Kategorie dominierte.
Völlig zu Recht gewann Coralie Fargeats böse Satire auf den Schönheit- und Jugendwahn THE SUBSTANCE den Oscar für das beste Maskenbild. Da dieser Preis in den vergangenen Jahren häufig gemeinsam mit einer Auszeichnung für eine transformative Performance vergeben wurde, durfte THE SUBSTANCE-Hauptdarstellerin Demi Moore ebenfalls auf den Oscar hoffen. Wie ich in meiner Prognose Teil #2 hinwies, gingen beide Awards allein in den letzten 15 Jahren siebenmal Hand in Hand. In drei Fällen – VICE (2018), BOMBSHELL (2019) und MA RAINY’S BLACK BOTTOM (2020) – folgten allerdings auf den MakeUp-Preis keine Oscars für die jeweiligen Hauptdarsteller_innen.
Doch zunächst einmal wurde es spannend im Best Picture-Race. ANORA und CONCLAVE, die beide als die heißesten Anwärter für den Toppreis gehandelt wurden, lieferten jeweils in den Drehbuchkategorien. Indie-Filmemacher Sean Baker gewann seinen ersten Oscar für sein Original-Drehbuch zu ANORA und bedankte sich unter anderem bei den vielen Sex-Arbeiter_innen, die ihn im Laufe seiner Karriere mit ihren Geschichten inspiriert hatten. CONCLAVE sicherte sich den Preis für das beste adaptierte Drehbuch. So weit, so erwartbar.
Eine Besprechung zu CONCLAVE findet ihr hier.
Doch nun musste Edward Bergers Vatikan-Thriller den Oscar für den besten Filmschnitt gewinnen, um seine Chance auf den Hauptpreis zu wahren. Dass ein Bester Film mit nur zwei Oscars gewinnt (Drehbuch und Film) hat es in den letzten 80 Jahren nur zweimal gegeben: bei THE GREATEST SHOW ON EARTH (1952) und SPOTLIGHT (2015). Der Oscar für den Schnitt ging allerdings an ANORA. Sean Baker ist damit nach James Cameron (TITANIC, 1997) und Alfonso Cuaron (GRAVITY, 2013) der dritte Regisseur, der auch für das Editing honoriert wurde. Während sich die Chance von CONCLAVE, The Big One zu gewinnen, in Luft auflöste, konnte sich das Team von ANORA allmählich auf einen großen Triumph vorbereiten.
Es gab allerdings noch einen dritten Player im Spiel. Brady Corbets Dreieinhalbstunden-Meisterwerk THE BRUTALIST, eine ebenso elegante wie schonungslose Dekonstruktion des „amerikanischen Traums.“ Die zeitlose Schönheit des Films wurde nun mit dem Oscar für die beste Kamera gewürdigt. Eine absolut verdiente Auszeichnung, da Lol Crawley aus einem vergleichsweise schmalen Budget einen Film zauberte, der sich mit den großen amerikanischen Epen längst vergangener Zeiten messen könnte. Kurz darauf folgte ein weiterer Oscar für THE BRUTALIST. Daniel Blumberg wurde für seine erst zweite Filmmusik gewürdigt und wie für Crawley gilt auch hier: absolut verdient. Blumbergs Score war der beste des Jahres.
Nun trat die Oscarverleihung in ihre Schlussphase. Als bester Hauptdarsteller gewann Adrien Brody für THE BRUTALIST, der mit nun drei Oscars kurzzeitig die Führung übernahm. Brody galt für seine Performance als Favorit und hatte die meisten Preise im Vorfeld gewonnen. Doch nach Timothée Chalamets Auszeichnung bei den Screen Actor’s Guild Awards für seine Bob Dylan-Interpretation in A COMPLETE UNKNOWN, fragten sich Viele, ob Chalamet vielleicht doch Brodys Rekord als jüngster Oscarpreisträger in dieser Kategorie noch brechen könnte. Er konnte es nicht. Brody bleibt mit seinem Oscar für THE PIANIST (2002) im Alter von 29 Jahren und elf Monaten der jüngste oscargekrönte Hauptdarsteller und tritt mit THE BRUTALIST dem kleinen elitären Klub der zweifachen Gewinner in dieser Kategorie bei. Mit 2 Stunden, 8 Minuten und 30 Sekunden Screentime ist Brodys Performance in THE BRUTALIST nun auch die Längste, die je mit einem Oscar ausgezeichnet wurde.
Eine Besprechung zu THE BRUTALIST findet ihr hier.
Direkt darauf folgte der Oscar für die beste Regie und damit schon eine Vorentscheidung. Sollte Brady Corbet für THE BRUTALIST gewinnen, hätte ANORA immer noch Bester Film werden können. Es war aber kaum vorstellbar, dass THE BRUTALIST den Hauptpreis gewinnt, Corbet aber leer ausgeht. Corbets Regie war neben Brodys Performance die herausragende Leistung bei THE BRUTALIST, während ANORA sauber inszeniert ist, aber vor allem als gut geschrieben und herausragend gespielt wahrgenommen wurde. Der Oscar ging an Sean Baker für ANORA. Das Rennen um den Hauptpreis war damit entschieden.
Nun gab es nur noch ein offenes Rennen. Das um den Oscar für die beste weibliche Hauptrolle. Demi Moore lag in Bezug auf die Precursor Awards vorne, hatte Golden Globe, Critics Choice Award und Screen Actor’s Guild Award gewonnen. THE SUBSTANCE war für das Maskenbild ausgezeichnet worden und Moore hatte die beste Comeback-Story im Gepäck. Mikey Madison, auf der anderen Seite, hatte die meisten regionalen Kritikerpreise gewonnen und war bei den BAFTAs, dem britischen Oscar-Pendant erfolgreich gewesen. Was aber wohl noch mehr wog: Madison ist ANORA. Sie ist das Gesicht des Films und trägt in auf ihren schmalen Schultern. Der Film, der sich gerade anschickte, den Hauptpreis zu gewinnen, steht und fällt mit ihrer Performance. Wie konnte also der Film den Oscar gewinnen, sie aber leer ausgehen?
Das sah die Academy offensichtlich genauso. Mikey Madison gewann und war sichtlich überrascht und gerührt. Möge die Auszeichnung der Start einer großen Karriere sein. Die 25jährige blickt zwar schon auf einige kleinere Rollen in Filmen und TV-Serien zurück. ANORA war aber ihr erster großer Part. Demi Moore, auf der anderen Seite, war sichtlich enttäuscht, sollte aber all die Anerkennung, die sie für THE SUBSTANCE bekam, nutzen, um diese neue Phase ihrer Karriere auszufüllen.
Am Ende stand der Gewinner des Hauptpreises also fest. Meg Ryan und Billy Crystal, die zum 35. Jubiläum ihres großen gemeinsamen Erfolgs mit WHEN HARRY MET SALLY (1989) den letzten Oscar präsentierten, verkündeten den Besten Film des Jahres 2024: ANORA.
Die kleine Independent-Produktion (Budget: ca. 6 Millionen $) war damit der große Abräumer des Abends und gewann fünf Oscars. Allein vier davon (Film, Regie, Drehbuch und Schnitt) gingen an einen überglücklichen Sean Baker. Seit 70 Jahren hatte keine Person mehr als drei Oscars in einem Jahrgang gewonnen. In 97 Jahren Oscargeschichte gibt es nun überhaupt nur zwei Leute, die an einem Abend vier Oscars gewonnen haben: Walt Disney und Sean Baker. Was für eine Paarung. Baker machte sich noch einmal stark für das Independent-Kino und erinnerte das Publikum an den einzigen Weg, das Kino als Kunst- und Unterhaltungsform zu erhalten: ins Kino gehen.
Eine Besprechung zu ANORA findet ihr hier.
Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen, außer vielleicht, dass auch dieser Jahrgang und diese Awards Season wieder viel Spaß gemacht haben. Im nächsten Jahr wird es eine neue Kategorie geben: Best Casting. Wie auch immer die dann aussieht.
Thomas Heil schaut seit 1992 die Oscars – und stellt jedes Jahr seine Favoriten zusammen. Seine Lieblingsfilme haben es oft nicht auf die Liste geschafft, aber darum geht es ja auch nicht, denn Film ist Kunst und kein Wettbewerb, wie man auch über Sinn und Unsinn solcher Preisverleihungen streiten kann. Nur soviel: man sollte sie gewiss nicht zu ernst nehmen.