Oscarverleihung 2025 – eine Prognose, Teil #3

Am Sonntag werden in Los Angeles zum 97. Mal die Oscars verliehen. Nachdem es in Teil #1 um die Kurzfilme, die Dokumentarfilme und die Animierten Spielfilme und in Teil #2 um die technischen Kategorien ging, schauen wir uns heute die vier Schauspielkategorien an. Los geht es aber zunächst mit dem Academy Award für den besten Internationalen Film.
I. International Feature Film

Hier gibt es eine einfache Regel. Ist ein Film in mehr als dieser einen Kategorie, vor allem aber, ist er auch als Bester Film nominiert, gewinnt er diesen Oscar. So lief es in den letzten Jahren bei ROMA (2018), PARASITE (2019), DER RAUSCH (2020, nominiert für Regie), DRIVE MY CAR (2021), IM WESTEN NICHTS NEUES (2022) und THE ZONE OF INTEREST (2023).
Wird gewinnen: Mit EMILIA PÉREZ ist in diesem Jahr sogar der meistnominierte Film des Jahres im Rennen. Doch trotz 13 Nominierungen – ein Rekord für nichtenglischsprachige Filme – wird es für französische Produktion nochmal eng. Die diversen Kontroversen um den Film, vor allem die unsäglichen Einlassungen von Hauptdarstellerin Karla Sofía Gascón in den so genannten sozialen Medien, haben den Erfolgschancen des Musicals schwer zugesetzt. Wie schwer und ob das für einen der anderen Nominierten reicht, im Abstimmungsprozess die Führung zu übernehmen, wird sich in der Nacht zum Montag zeigen. Fakt ist, allein mit der Nominierung von EMILIA PÉREZ hat Frankreich seinen Nominierungsrekord in dieser Kategorie auf 43 erhöht. Italien folgt in dieser Statistik mit einigem Abstand und 31 Nominierungen. Sollte EMILIA PÉREZ gewinnen, würde für Frankreich ein lange Durststrecke enden. Es wäre der erste Oscar für die große Kulturnation seit INDOCHINE (1992). EMILIA PÉREZ, der in Mexiko spielt und in dem natürlich spanisch gesprochen wird, wäre nicht der erste Oscargewinner aus Frankreich, in dem nicht französisch gesprochen wird. 1959 ging der Oscar an ORPHEU NEGRO, eine modernisierte Version des Orpheus-Mythos, die in die Slums von Rio de Janeiro verlegt wurde. In dem Film, über den die Welt den Bossa Nova kennenlernte, wurde portugiesisch gesprochen.
Eine feine Ironie, da der stärkste Konkurrent für EMILIA PÉREZ ausgerechnet der brasilianische Beitrag FÜR IMMER HIER von Walter Salles ist. Das Drama, das von einer gut situierten Familie in Rio de Janeiro handelt, die den plötzlichen Verlust des Familienvaters verkraften muss, spielt in der Zeit der brasilianischen Militärdiktatur. Rubens Paiva, ein fürsorglicher, liebevoller Vater, Architekt und früherer sozialistischer Abgeordneter wird eines Tages zum Verhör abgeholt. Er wird nicht wiederkehren. Seine Frau Eunice (Fernanda Torres) versucht verzweifelt herauszufinden, was mit ihrem geliebten Mann geschehen ist und zugleich den fünf Kindern eine Art Normalität aufrechtzuerhalten. Der exzellente Film stellt im aktuellen politischen Klima eine Warnung dar, Demokratie und Menschenrechte nicht leichtfertig einer Diktatur zu opfern. Mitten im Nominierungsprozesse begannen, vielleicht auch beflügelt durch den Sturz EMILIA PÉREZ’, die Aktien von FÜR IMMER HIER zu steigen. Spielte er bei den frühen Precursor Awards keine Rolle, gewann Fernanda Torres überraschend den Golden Globe als Hauptdarstellerin (Drama). Und nun ist FÜR IMMER HIER neben International Feature Film und Hauptdarstellerin auch als Bester Film nominiert. Zum erstmal sind damit zwei Kandidaten aus dieser Kategorie auch für den Hauptpreis im Rennen. Sollte EMILIA PÉREZ hier scheitern, geht der Oscar mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit an FÜR IMMER HIER. Der Film ist erst Brasilien sechste Nominierung, die erste seit CENTRAL DO BRASIL (1998), bei dem ebenfalls WALTER SALLES Regie führte.
Sollte gewinnen: DAS MÄDCHEN MIT DER NADEL, der dänische Beitrag, in dem Regisseur Magnus von Horn in expressionistischen Schwarzweiß-Bildern eine grausige Moritat aus der Zeit am Ende des Ersten Weltkriegs erzählt. Eine junge Mutter wird ungewollt zur Gehilfin einer Serienmörderin. Der auf wahren Begebenheiten beruhende Film ist ein albtraumhaftes Meisterwerk und hätte mindestens eine weitere Nominierung für die beste Kameraarbeit verdient gehabt.
Auch Deutschlands Beitrag DIE SAAT DES HEILIGEN FEIGENBAUMS wäre unbedingt preiswürdig. Mohammad Rasoulof erzählt darin von einer Familie, die an den Verhältnissen im Iran zerbricht. Während der Familienvater zum Untersuchungsrichter aufsteigt, was für die Familie soziale Absicherung und eine größere Wohnung bedeutet, brechen im Iran die „Frau, Leben, Freiheit“-Proteste aus. Während der Vater Todesurteile gegenzeichnen muss und so zum Handlanger des brutalen Mullah-Regimes wird, verfolgen seine Töchter über die sozialen Medien die Proteste und solidarisieren sich mit ihnen. Über zwei Drittel des Films erzählt Rasoulof seine Geschichte als Kammerspiel, um das Ganze im letzten Drittel in einen handfesten Thriller kippen zu lassen. Der im Iran wegen seiner Kritik am Regime zu mehrjähriger Haft (inkl. Peitschenhiebe) verurteilte Regisseur, inszenierte den Film im Guerillastil trotz Drehverbot heimlich und floh kurz vor seiner erneuten Inhaftierung über die Türkei nach Deutschland, wo er seither lebt und den Film fertiggestellt hat. DIE SAAT DES HEILIGEN FEIGENBAUMS ist ein iranischer Film, der mit deutschem Geld produziert wurde und konnte daher auch für Deutschland ins Oscarrennen gehen. Er ist Deutschlands 24. Nominierung und wäre nach DIE BLECHTROMMEL (1979), NIRGENDWO IN AFRIKA (2002), DAS LEBEN DER ANDEREN (2006) und IM WESTEN NICHTS NEUES (2022) der fünfte deutsche Oscargewinner.
Außerdem nominiert: FLOW, der erste Film aus Lettland, der für einen Oscar nominiert ist. Die Geschichte einer Katze, die vor einer Umweltkatastrophe flieht, ist zusätzlich auch als bester Animierter Film nominiert. Nach den beiden animierten Dokumentarfilmen WALTZ WITH BASHIR (2008, für Israel) und FLEE (2021, für Dänemark) ist FLOW der erste animierte Spielfilm, der hier nominiert ist. Er wäre auch der erste animierte Film, der in dieser Kategorie gewinnt.
Eine Besprechung zu DAS MÄDCHEN MIT DER NADEL findet ihr hier.
II. Nebendarsteller

Wird gewinnen: Kieran Culkin als emotional instabiler Mittdreißiger, der in A REAL PAIN mit seinem Cousin (Regisseur, Drehbuchautor und Hauptdarsteller Jesse Eisenberg) nach Polen reist, um dort das Geburtshaus der gemeinsamen Großmutter, einer Holocaustüberlebenden zu besuchen. Der Trip ist nicht nur eine Reise in die Vergangenheit und zu den eigenen Wurzeln, er gestaltet sich auch als eine Art Therapiesession für einen verzweifelten Mann, der die Mitte seines Lebens verloren hat. Kieran Culkin schaut auf eine über 30 Jahre währende Karriere zurück und hatte seinen ersten Kinoauftritt an der Seite seines großen Bruders Macauley in dessen Megahit HOME ALONE (1990). Es folgten zahlreiche Auftritte als Kind, später als junger Erwachsener, bevor er ab 2018 in der Erfolgsserie SUCCESSION als Roman Roy zum Star wurde. Der aktuelle Awardserfolg mit A REAL PAIN hat gewiss auch mit Culkins Popularität durch SUCCESSION zu tun. Amerikas beliebteste Nervensäge gewann im Vorfeld sämtliche wichtigen Preise (auch Goldene Globe, CCA, BAFTA und SAG-Award). Auch der Oscar ist ihm nicht mehr zu nehmen.
Sollte gewinnen: Yura Borisov, der in ANORA lange als stiller Beobachter im Hintergrund agiert, bevor er im letzten Drittel ins emotionale Zentrum des Films rückt. Sein Igor wird eigentlich in der Rolle des Schlägers engagiert, der helfen soll, die Annullierung der Ehe Anis mit einem Oligarchensohn durchzusetzen. Doch Igor zeigt Verständnis für Ani und wird, egal mit wieviel Verachtung sie ihn straft, zu ihrem heimlichen Verbündeten. Der Russe Borisov erlangte vor vier Jahren mit dem finnischen Film ABTEIL NR. 6 internationale Bekanntheit. In ANORA ist er letztlich die sympathischste Figur und kann diesen Erfolg hoffentlich in eine große Karriere ummünzen.
Auf eine veritable Karriere kann der Australier Guy Pearce schon zurückblicken. Er hatte Auftritte in so unterschiedlichen Filmen wie THE ADVENTURES OF PRISCILLA, QUEEN OF THE DESERT (1994), L.A. CONFIDENTIAL (1997), MEMENTO (2000), THE PROPOSITION (2005), THE KING’S SPEECH (2010) oder IRON MAN 3 (2013). In THE BRUTALIST gibt er den steinreichen Unternehmer Harrison Lee Van Buren, der seinen Mangel an geistigem Format mit Arroganz und Unterdrückung kompensiert. Es ist die vielleicht beste Performance in Pearce langer Karriere. Den Oscar hätte er schon lange verdient.
Außerdem nominiert: Edward Norton, der als Folkbarde Pete Seeger in A COMPLETE UNKNOWN eine für seine Verhältnisse erstaunlich zurückgenommene Performance zeigt. Seeger weiß um den Diamanten, den er in dem jungen Bob Dylan gefunden hat. Als dieser sich aber allmählich von der Folk-Szene zu lösen beginnt, kann Seeger seine Contenance nur schwer waren. Norton ist der Veteran in dieser Kategorie. Er ist bereits zum vierten Mal nominiert, nach PRIMAL FEAR (1996), AMERICAN HISTORY X (1998, als Hauptdarsteller) und BIRDMAN OR (THE UNEXPECTED VIRTUE OF IGNORANCE) (2014). Eigentlich ist Norton überfällig. Er wird sich aber noch etwas gedulden müssen.
Nicht nur der wahrscheinliche Gewinner Kieran Culkin zehrt von seinem SUCCSESSION-Ruhm. Auch sein Serien-Bruder Jeremy Strong ist ins diesem Jahr nominiert. In THE APPRENTICE, in dem der iranisch-dänische Regisseur Ali Abbasi die jungen Jahre Donald Trumps dekonstruiert, spielt Strong den Anwalt Roy Cohn, für den die Beschreibung zwielichtig nur unzureichend ist. Cohn ist ein seine Mitmenschen verachtender Winkeladvokat, der jederzeit bereit ist, das Recht nach seinen Vorstellungen und ausschließlich zu seinem Vorteil auszulegen. Seine Lehren sind es, die den ohnehin schon moralfreien Donald Trump in den schrecklichen Menschen verwandeln, unter dem wir heute zu leiden haben.
Eine Besprechung zu A COMPLETE UNKNOWN findet ihr hier.
III. Nebendarstellerin

Wird gewinnen: Zoe Saldaña als frustrierte Anwältin, die einem brutalen mexikanischen Gangsterboss zu einer neuen Identität als elegante Wohltäterin EMILIA PÉREZ verhilft. Saldaña gibt in diesem Film alles und zeigt, dass sie nicht nur eine begnadete Schauspielerin ist. Sie singt und tanzt, als hätte sie das schon immer getan. Saldaña, die mit Hauptrollen in den AVATAR-Filmen (2009, 2022), den GUARDIANS OF THE GALAXY-Filmen (2014, 2017 und 2023) und den beiden AVENGERS-Filmen INFINITY WAR (2018) und ENDGAME (2019) zu den erfolgreichsten Schauspieler*innen der Welt gehört, wird ihre Karriere nun mit einem Oscar krönen. Die Kontroverse um EMILIA PÉREZ scheint ihr jedenfalls nichts anzuhaben. Sie gewann den Golden Globe, den CCA, den BAFTA und den SAG-Award.
Sollte gewinnen: Sollte Saldaña wider Erwarten leer ausgehen, gehen die meisten Beobachter von einem Oscar für Ariana Grande in WICKED aus. Der Pop-Superstar spielt die zunächst arrogante Galinda, die sich nach anfänglicher Ablehnung doch noch mit der magischen Mitschülerin Elphaba anfreundet. Wahrscheinlich muss man ein Fan Grandes und/oder des Musicals sein, um diesem Auftritt etwas abgewinnen zu können. Die schauspielerischen Fähigkeiten und Star-Qualitäten Grandes will ich ihr gar nicht absprechen, aber warum sie für diesen allenfalls durchschnittlichen Auftritt für einen Oscar nominiert wurde, erschließt sich mir nicht.
Dann schon lieber Felicity Jones, die in THE BRUTALIST die Holocaustüberlebende Erzsébet Tóth, die Gattin des Protagonisten, spielt. Erzsébet taucht erst in der zweiten Hälfte des Dreieinhalbstundenfilms auf. Das genügt aber für einen nachhaltigen Auftritt. Erzsébet erdet Lászlo (Adrien Brody), erkennt früh die Scheinheiligkeit Van Burens und stellt diesen am Ende des Films dramatisch zur Rede. Ich war nie ein großer Fan Jones’. Ihre erste und bislang einzige Oscarnominierung als Hauptdarstellerin des Stephen Hawking-Biopics THE THEORY OF EVERYTHING (2014) bereitet mir heute noch (wie der ganze Film) Kopfschmerzen. In THE BRUTALIST hat sie mich aber auf ganzer Linie überzeugt. Erzsébet Tóth ist ihre bislang beste Performance.
Außerdem nominiert: Monica Barbaro, die in A COMPLETE UNKNOWN die Folksängerin Joan Baez spielt, die zeitweise in amourösem Verhältnis zu Bob Dylan stand. Barbaro verfügt über eine unbestreitbare Präsenz, die sie in den kommenden Jahren zum Star machen könnte. Sie spielt Baez als eine kluge, reflektierte und selbstbewusste Frau, die im Unterschied zu Dylan auch noch ein Show-Profi ist. Am beeindruckendsten ist allerdings ihre Stimme. Barbaro singt wie alle Darsteller im Film alle Songs selbst. Man muss sie nur singen hören, um an diesen Oscar zu glauben.
Zum ersten Mal nominiert ist die Veteranin Isabella Rossellini, die in CONCLAVE die Schwester Agnes spielt, die mit anderen Nonnen quasi unsichtbar im Hintergrund die Dinge im Vatikan am laufen hält. Es ist ein recht kurzer Auftritt – unter neun Minuten – und Rossellini hat auch nur wenige Sätze zu sagen. Im insgesamt sehr männlichen Cast des Vatikan-Thrillers hinterlässt sie aber doch einen bleibenden Eindruck.
Eine Besprechung zu EMILIA PÉREZ findet ihr hier.
IV. Hauptdarsteller

Wird gewinnen: Adrian Brody, der in THE BRUTALIST den ungarisch-jüdischen Architekten Lászlo Tóth spielt, der – ein Holocaustüberlebender – in Amerika eine zweite Chance erhält, als der Unternehmer Van Buren ihn beauftragt einen großen Gebäudekomplex zu errichten. Der Auftrag, die neue Umgebung, das kapitalistische System – sie korrumpieren Tóth, bevor ihn seine Frau Erzsébet bittet, einen weiteren Neuanfang an einem anderen Ort zu wagen. Brody trägt diesen gewaltigen Film. Es ist die Performance seines Lebens. Vor mehr als zwanzig Jahren gewann Brody überraschend den Oscar für THE PIANIST (2002) und schrieb Geschichte als bis heute jüngster Preisträger in dieser Kategorie. Seine Karriere geriet danach ins Stocken, doch hat er seither mit diversen Auftritten als Charakterdarsteller in Nebenrollen sein Profil geschärft. Für THE BRUTALIST hat Brody zahlreiche Preise gewonnen, u.a. den Golden Globe, den CCA und den BAFTA. Den Oscar hat er dennoch nicht sicher in der Tasche.
Denn bei den SAG-Awards ging der Preis für die beste männliche Hauptrolle an Timothée Chalamet, der in A COMPLETE UNKNOWN den jungen Bob Dylan spielt. Chalamet ist der mutmaßlich größte Star seiner Generation und seit Jahren ein Internet-Darling. Trotz seiner Jugend hat er schon in sieben Filmen tragende Rollen gespielt, die für den Oscar für den Besten Film nominiert wurden: CALL ME BY YOUR NAME (2017), LADY BIRD (2017), LITTLE WOMEN (2019), DON’T LOOK UP (2021), DUNE (2021), DUNE: PART TWO (2024) und A COMPLETE UNKNOWN. Wie in den meisten anderen Filmen füllt Chalamet auch als Bob Dylan die Leinwand mühelos mit seinem Charisma. Es gibt an dieser Performance nichts auszusetzen, außer, dass es wieder einmal die Darstellung eines Real-Life-Characters in einem Bionic ist, die Chalamet zu seiner längst fälligen zweiten Nominierung verholfen hat. Für seine vielleicht immer noch beste Performance in CALL ME BY YOUR NAME hätte Chalamet als jüngster mit einem Oscar ausgezeichneter Hauptdarsteller Geschichte schreiben können. A COMPLETE UNKNOWN ist Chalamets letzte Chance dazu. Er wäre am Montag immer noch ein paar Monate jünger als Brody, als der seinen Oscar für THE PIANIST gewann.
Sollte gewinnen: Colman Domingo als John „Divine G“ Whitfield in SING SING. Whitfield sitzt unschuldig im Gefängnis und hofft auf Bewährung. In der Zwischenzeit, um nicht rammdösig zu werden und seinen Mitgefangenen etwas Hoffnung zu verschaffen, hat er eine Theatertruppe organisiert. Die Knastinsassen spielen verschieden Rollen, lernen sich selbst besser kennen, setzen sich mit ihren Fehlern auseinander und schöpfen tatsächlich Mut. All das beruht auf einer wahren Geschichte. SING SING ist kein Bionic, aber Whitfield gibt es wirklich. Er hat gemeinsam mit seinem ehemaligen Mitgefangenen Clarence Maclin das Drehbuch mit verfasst und ist dafür ebenfalls für den Oscar nominiert. Die meisten Darsteller im Film spielen sich selbst. Domingos Leadperformance hält den Film zusammen. Es ist seine zweite Oscarnominierung nach RUSTIN im vergangenen Jahr und nicht nur ich habe das Gefühl, Coleman Domingo ist ein Oscarpreisträger im Wartestand. Für SING SING wird es, obwohl hochverdient, wohl noch nicht reichen. Aber seine Zeit wird kommen.
Außerdem nominiert: Das dachte ich allerdings vor 28 Jahren schon bei Ralph Fiennes. Man kann nicht behaupten, er hätte enttäuscht. Fiennes gehört zu den profiliertesten Charakterdarstellern des internationalen Kinos. Er lässt eine großartige Performance auf die andere folgen. Warum erst sein Kardinal Lawrence in CONCLAVE zu seiner dritten Nominierung nach SCHINDLER’S LIST (1993, als Nebendarsteller) und THE ENGLISH PATIENT (1996) geführt hat, bleibt wohl ein Geheimnis der Academy. Als Lawrence hadert Fiennes mit seinem Glauben und der Institution Kirche, könnte sich aber, trotz vorheriger Ablehnung durchaus vorstellen, den heiligen Stuhl zu besetzen.
Etwas überraschend, wenngleich nicht unverdient, ist die Nominierung von Sebastian Stan, der in THE APPRENTICE den jungen Donald Trump mimt. Es ist eine erstaunlich präzise Darstellung Trumps, die nicht um falsches Mitgefühl buhlt, seine Figur aber auch nicht ins Lächerliche zieht, sondern genau aufzeigt, wie dieser oberflächliche, nicht besonders intelligente Mann, zu dem unangenehmen Menschen werden konnte, der heute im Oval Office sitzt und gewählte Repräsentanten anderer Staaten vor der Weltöffentlichkeit abkanzelt.
Eine Besprechung zu THE BRUTALIST findet ihr hier.
V. Hauptdarstellerin

Alle fünf Hauptdarstellerinnen sind für Filme nominiert, die auch um den Hauptpreis Bester Film konkurrieren. Das gab es zuletzt 1977 und auch davor nur drei weitere Male: 1934, 1940 und 1941.
Wird gewinnen: Demi Moore als Elisabeth Sparkle in THE SUBSTANCE. Moore spielt den in die Jahre gekommenen TV-Star Elisabeth, die sich eine Droge injiziert und sich so ein jüngeres Ich verschafft, das im folgenden rücksichtslos die letzte Energie aus Elisabeth saugt. Dass ich an dieser Stelle einmal schreiben würde, dass Demi Moore eine Oscar gewinnen wird, war noch vor wenigen Monaten genauso undenkbar, wie der Aufstieg eines wilden Bodyhorrorfilms mit blutigen Finale aus Gore und Splatter zu einer Oscarnominierung für den Besten Film. Doch hier sind wir. Seit THE SUBSTANCE im vergangenen Mai in Cannes Premiere feierte wurde über eine mögliche Nominierung Moores spekuliert. Ein großartiges Comeback-Narrativ. Demi Moore, seit mehr als 40 Jahren im Geschäft, wurde nie als ernst zu nehmende Schauspielerin gehandelt. Sie wurde, wie sie es selbst in ihrer Dankesrede bei den Goldene Globes ausdrückte, als „Popcorn-Actress“ gebucht. Doch nun, zu einem Zeitpunkt, da für die meisten weiblichen Stars immer noch die Uhr unbarmherzig zu ticken beginnt (liegt das am Publikum oder an den Produzenten – die Frage muss sich jeder selbst stellen), bekam Moore die Chance, in einem Film mitzuspielen, der genau das zum Thema macht. Moore griff zu und lieferte die beste Darstellung ihrer Karriere. Es ist eine sehr physische Performance, die jederzeit ins Lächerliche hätte abrutschen können. Sie tut es nicht, weil Demi Moore in diesem Film tatsächlich eine fantastische Show liefert. Dafür gab es neben vielen Kritikerpreisen den Golden Globe, den CCA und schließlich den SAG-Award.
Den einzigen Precursor, den Moore nicht gewinnen konnte, war der BAFTA. Die britische Filmacademy zeichnete stattdessen Mikey Madison für ANORA aus. Madison ist damit noch im Rennen und sollte ANORA am Ende den Hauptpreis gewinnen, könnte eine weiterer Oscar für die weibliche Hauptdarstellerin herausspringen. Denn Madison trägt diesen Film auf ihren Schultern. Sie spielt den Titelcharakter. Sie ist das Gesicht von ANORA. Für die junge Schauspielerin, die neben TV-Serien vor allem durch markante Kurzauftritte in ONCE UPON A TIME IN… HOLLYWOOD (2019) und SCREAM (2022) bekannt wurde, ist die Geschichte der Stripperin, die einen wohlstandsverwahrlosten russischen Oligarchensohn heiratet und es dann mit dessen schrecklicher Familie zu tun bekommt, das Sprungbrett zu Größerem. Sie ist jetzt ein Star und möglicherweise bald der Star eines oscargekrönten Films. Madison hätte den Oscar auf jeden Fall verdient und sollte sie tatsächlich gewinnen, wäre Best Picture ein Done-deal.
Sollte gewinnen: Neben Madison und Moore wäre ein Oscar auch für Fernanda Torres in FÜR IMMER HIER absolut wünschenswert. Torres spielt eine Frau, deren Mann von der brasilianischen Junta verschleppt und mutmaßlich ermordet wurde. Angst, Verzweiflung, Mut und Überlebenswille kennzeichnen diese Performance. Das Drama ihrer Familie, aber auch das ihres Landes spiegeln sich in diesem Gesicht. Fernanda Torres ist die zweite brasilianischen Schauspielerin, die für den Oscar nominiert ist. Sie folgt auf Fernanda Montenegro, ihre Mutter, die 1998 für CENTRAL DO BRASIL ins Rennen ging.
Außerdem nominiert: Broadwaystar Cynthia Erivo als grüne Hexe Elphaba in WICKED. Erivo spielt eine junge Frau, die mit permanenten Vorurteilen kämpfen muss, bevor sie ihr Schicksal in die eigene Hand nimmt. Erivos Performance ist toll. An ihr liegt es gewiss nicht, dass mich WICKED doch recht kalt lässt. Es ist Erivos dritte Nominierung nach Harriet (2019), für den sie sowohl als Hauptdarstellerin als auch für den besten Film-Song nominiert war.
Karla Sofía Gascón schließlich ist als Titelfigur in EMILIA PÉREZ nominiert. Die bisher vor allem in spanischen Telenovelas auftretende Gascón hat mit dieser Nominierung schon Geschichte geschrieben, als erste Transperson, die für einen Schauspieloscar nominiert wurde. Damit hören die positiven Nachrichten leider schon auf. Gascón, die tatsächlich in EMILIA PÉREZ einen charismatischen Auftritt hinlegt, hat sich mit ihrem verstörenden Verhalten in den so genannten sozialen Medien selbst abgeschossen. Dies wird vermutlich ihre einzige Nominierung bleiben.
Eine Besprechung zu ANORA findet ihr hier.
Thomas Heil schaut seit 1992 die Oscars – und stellt jedes Jahr seine Favoriten zusammen. Seine Lieblingsfilme haben es oft nicht auf die Liste geschafft, aber darum geht es ja auch nicht, denn Film ist Kunst und kein Wettbewerb, wie man auch über Sinn und Unsinn solcher Preisverleihungen streiten kann. Nur soviel: man sollte sie gewiss nicht zu ernst nehmen.
In finalen Teil 4 wird es um die Awards für die Drehbücher, die Regie und schließlich um den Hauptpreis, den Oscar für den Besten Film gehen.