66. Berlinale: „Hele Sa Hiwagang Hapis“ („A Lullaby To The Sorrowful Mystery“) von Lav Diaz – Silberner Bär


Lange Filmsequenzen sind für Lav Diaz reine Formsache und folgen einer persönlichen Ideologie. © Bradley Liew

Lange Filmsequenzen sind für Lav Diaz reine Formsache und folgen einer persönlichen Ideologie. © Bradley Liew

Der museale Expander

„You’re free. You can go home and fuck your wife or marry your girlfriend, you come back the film is still rolling. It’s about life. Ultimately, cinema is about life itself.“ Etwas kaltschnäuzig begegnet Lav Diaz einem Journalisten des Inquirer.net Magazins auf die Frage nach dem Gegenstand der Zeit in seinen Filmen. Man könnte diese Antwort aber auch als Anspielung auf die ursprüngliche kulturelle Prägung hinsichtlich des Raum-Zeit-Gefüges im südostasiatischen Raum begreifen, und als Erinnerung an eine dort verankerte antike, asiatische Rezeptionsästhetik, die vor allem im kultischen Theater überliefert wurde. Von Anfang an stand die Kunst des Performativen im asiatischen Kulturraum im Kontext ritueller Traditionen. Das Theater als rituelles Spiel – im Sinne religiöser Praktiken, Geister- und Ahnenkulten, wie im Nō-Theater, dem Bunraku oder dem Schattentheater – war Ort der Kontemplation und wurde in einer Form sozialer Feste zelebriert, in denen Zeit und Raum miteinander verschmolzen. Familien kamen zusammen und wohnten den oft Tage andauernden Vorführungen bei.

Diaz‘ Filmästhetik, die oft mit der Kategorie „Slow-Cinema“ umschrieben wird, ist voll von derlei rituellen Zügen. Diaz selbst aber nutzt andere Erklärmuster als Rechtfertigung für seine ausufernden Filme. Die Notwendigkeit seiner überlangen Filme werden von ihm nicht mit Verweisen auf kulturelle Wurzeln oder rezeptionsästhetische Herkunftsmuster gerechtfertigt.

Trifft nun diese besondere Kunstform auf die Sehgewohnheiten und das strenge, auf Disziplin und Konzentration bedachte Rezeptionsverhalten eines europäischen Theater- oder Kinogängers, wird die Kerngröße „Zeit“ zunächst zum Balastfaktor. Denn das in die Länge gezogene Kinoerlebnis bedeutet eben überproportionales Ausharren, Stillsitzen und Zuhören. Die als herausfordernd empfundene Aufgabe nimmt der hiesige Zuschauer aber dennoch unter dem Vorzeichen der Erschließung existentieller Erfahrungsräume – seien sie meditativer oder physischer Art – an, auch wenn es unter Umständen Nerven kostet und gegebenfalls schmerzende Kinoknie bedeutet. Viele Berlinalebesucher sahen den Wettbewerbsbeitrag also eher als sportliche Einladung eines unbeugsamen kleinen Mannes und kamen am Tag der Weltpremiere schon um 9:30 Uhr morgens in den Berlinale Palast. Zum Startschuss war der Saal unerwartet gut gefüllt. Allerdings saßen unter den Premierenzuschauern auch etliche Pressevertreter und brachten so das Haus auf eine ansehnliche Zuschauerdichte für den frühen Termin.

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