Film ohne Grenzen: KOKON von Leonie Krippendorff



Regisseurin und Drehbuchautorin Leonie Krippendorff verortet ihre sympathische Coming-of-Age-Geschichte, die die Sektion Generation 14plus der Berlinale 2020 eröffnete, ganz klar in Berlin-Kreuzberg, rund um das Kottbusser Tor. Der „Kotti“ spielt eine wichtige Rolle im Film, als Noras Zuhause und Umfeld, in dem sie sich auskennt, das sie aber mitunter auch einengt, etwa, wenn ihre Schwester und deren beste Freundin sie dazu drängen wollen, den Kontakt zu Romy abzubrechen. Gemeinsam mit Romy lässt Nora den „Kotti“ hinter sich und entdeckt andere Orte der Stadt, an denen sie sich freier fühlen kann.

Mit dem Drehbuch zu KOKON war Leonie Krippendorff, die das Magazin Variety unter die „10 Europeans to Watch for 2020“ wählte, 2018 Teil der Berlinale Talents Script Station. Durch ein überzeugendes Ensemble – mit Jella Haase in der Hauptrolle drehte Krippendorff 2016 bereits das Drama LOOPING –, glaubwürdige Dialoge und eine gelungene, berlinaffine Bildsprache gelingt es Krippendorff, in KOKON einen typischen Berliner Teenager*innen-Sommer auf die Leinwand zu bringen.
Anwohner*innen des „Kotti“ treten als Laiendarsteller*innen im Film auf, wodurch eine noch authentischere Atmosphäre entsteht. Die Musik kommt u.a. von Alice Phoebe Lou, die seit 2013 in Berlin lebt, Straßenmusik macht und inzwischen auch Konzerte gibt. YouTube- und Handy-Videos sind selbstverständlicher Teil des Films und schaffen zusätzliche Authentizität. Auch wenn die drei Hauptdarstellerinnen in manchen Einstellungen ein bisschen zu alt für ihre Rollen wirken, überzeugen sie durch ihr feinfühliges Spiel.

Mit Leichtigkeit behandelt Leonie Krippendorff gesellschaftlich noch häufig tabuisierte Themen. Sehr offen werden nicht nur körperliche Veränderungen wie die erste Periode, sondern auch Noras Gefühlswelt, ihre Schwärmerei für die Mitschülerin und die damit verbundenen Unsicherheiten in Bezug auf ihre sexuelle Orientierung in den Blick genommen. Die etwas ältere und deutlich selbstsicherere Romy, die T-Shirts mit Gender Equality-Botschaften wie „Raise boys and girls the same way“ trägt und immer einen Joint zum Trost parat hat, hilft Nora dabei, ihren eigenen Weg zu finden.

Auch die Krankheit Magersucht, von der viele Teenager*innen betroffen sind, wird – wenn auch nur kurz – in die Handlung eingebunden. Am Anfang des Films essen Noras ältere Schwester Jule, deren beste Freundin Aylin und schließlich gezwungenermaßen auch Nora in Orangensaft getränkte Wattebäusche, um abzunehmen – das würden Models so machen. Im weiteren Verlauf des Films stellt sich heraus, dass eine der Hauptfiguren eine ihr nahestehende Person durch Magersucht verloren hat.

Die Alkoholsucht der Mutter und wie sehr diese die Schwestern belastet, spielt auch immer wieder eine Rolle. Auch Streitfragen, die – nicht nur in Berlin – durch die Medien gingen, werden kurz angeschnitten, so etwa Diskussionen um Hot Pants bzw. angeblich zu freizügige Kleidung von Frauen und Mädchen, um Waldbrände im Berliner Umland im heißen Sommer 2018 oder um weggeworfene Spritzen auf Spielplätzen, die eine große Gefahr für spielende Kinder darstellen.

Manche dieser – gerade auch für junge Menschen – sehr relevanten Themenkomplexe wie etwa Essstörungen, Alkohol- und Drogenkonsum oder Geschlechtergerechtigkeit und Feminismus hätten im Rahmen der Filmhandlung noch genauer betrachtet und stärker herausgearbeitet werden können. Krippendorff reißt vieles nur an, ohne in die Tiefe zu gehen.

Dennoch ist KOKON ein Film, der durch seine sensible und glaubwürdige Inszenierung und seine entwaffnende Offenheit, auch vermeintlichen Tabuthemen gegenüber, heraussticht und überzeugt. Man wünscht ihm ein großes, vor allem junges Publikum.

Stefanie Borowsky

KOKON (IT: COCOON), Regie: Leonie Krippendorff; Darsteller*innen: Lena Urzendowsky, Lena Klenke, Jella Haase, Helene Grass, Maria Schrader. Kinostart: 13. August 2020

 

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