„Leviathan“ von Andrey Zvyagintsev



Indem der Regisseur das russische Rechtssystem ins Zentrum des Films stellt, kitzelt er genau dieses Thema heraus. Kolja zieht vor Gericht, um gegen die vom Bürgermeister verordnete Zwangsräumung zu kämpfen. Dimitri reist dafür aus Moskau an, um ihm mit seiner juristischen Expertise zu helfen. Doch trotz der Bemühungen seines Anwalts entscheidet der Richter gegen Koljas Einspruch und auch Dimitri entfremdet seinen Freund immer weiter von dem Land, das er eigentlich für ihn hätte retten sollen. Hier liegt der Kern, mit dem Zvyagintsevs „Leviathan“ über die Hobbes’sche Beschreibung hinausgeht. Auch wenn Kolja sich schließlich entscheidet, nach den Spielregeln des Systems zu spielen, wird ihm diese Anpassung niemals die Sicherheit liefern, die er sucht. Im Gegenteil, sie befeuert seine Tragödie nur. Geschickt versinnbildlicht der Filmemacher das Drama, indem er sämtliche Gerichtsszenen in ein roboterhaftes Ambiente taucht. Richter lesen hier ihre Urteile laut und mit automatisierter Stimme vor. Das Publikum begreift dabei ganz allmählich, dass das, wogegen Kolja kämpft, ein sehr viel mächtigeres Monster als der bloße Gerichtshof ist, eins, das der Mensch allein niemals bezwingen kann.

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Das führt uns zu der anderen, der zweiten Lesart von „Leviathan„: Gegen Ende des Filmes gibt es eine Szene, in der Kolja völlig betrunken im Dorf herumläuft und von einem Priester gestoppt wird. Dieser bittet ihn, ihm einen Abschnitt aus dem Buch Hiob zu rezitieren. „Kannst du den Leviathan ziehen mit dem Haken […]?” Hiobs Geschichte fungiert hier als Warnung vor der Überheblichkeit des Menschen und als ein Hinweis auf seine Machtlosigkeit gegenüber dem Göttlichen. Wenn Hiob Leviathan nicht besiegen kann, ist er letztendlich gleichermaßen machtlos vor Gott. Genau wie Kolja, der ohne zu wissen, dass er gegen ein sehr viel größeres und abgeschottetes System kämpft, gegen das er keine eigenen Waffen richten kann, versucht er dennoch der Entscheidung des Richters die Stirn zu bieten. In diesem Sinne ist Zvyagintsevs Film zugleich politisch und biblisch. Doch wo findet sich Gott in Koljas Dorf? Ganz sicher nicht in der opulenten Kirche oder den goldenen Ikonen, die die korrupten Politiker anbeten und auch nicht in den Worten religiöser Persönlichkeiten, deren Sorgen sich allein um den Konsum von Mahlzeiten und Wodka drehen. Die Schönheit und Genialität von Zvyagintsevs Fabel liegt darin, dass er das Göttliche nicht dort verortet, wo man es vermutet, sondern es erhaben auftauchen lässt in den Klippen und Senken, die als atemberaubende Szenerie für Koljas Drama stehen. Sein zähes Ringen wird schließlich zu einem biblischen, der Konfrontation eines Menschen mit dem Universum, gegen dessen Regeln sich niemand erheben kann.

Die Qualität des Films ist jene, die bei großen Werken stets einmalig ist: das leicht unerfüllte Gefühl, mit dem der Zuschauer am Ende im Saal zurückgelassen wird. „Leviathan“ macht genau das. Er ist eine 140-minütige Reise, die einen in ein beeindrucktes und noch lange nach dem Abspann anhaltendes Staunen versetzt. „Leviathan“ ist nicht nur ein großartiger Film, sondern eine Erzählung über phantastische Verhältnisse, die Andrey Zvyagintsev mit ebenso phantastischer Grandeur verfilmt.

Leonardo Goi
(Aus dem Englischen übersetzt von SuT)

Leviathan„, Regie: Andrey Zvyagintsev, DarstellerInnen: Alexey Serebryakov, Elena Lyadova, Vladimir Vdovitchenkov, Roman Madyanov, Anna Ukolova, Alexey Rozin, Kinostart: 12. März 2015

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