„Lichtgestalten“ von Christian Moris Müller
Das Gestern löschen
Viel braucht der Mensch im Grunde nicht, um sich vollständig zu fühlen. Jeder, der wegen einem Umzug oder einer längeren Reise schon mal dazu gezwungen war, seine Habseligkeiten auf ein Minimum zu begrenzen, weiß das. Ein bisschen Kleidung, ein paar persönliche Gegenstände, ein Laptop, ein Handy, ein Personalausweis. Manche brauchen nicht mal ein dauerhaftes Dach über dem Kopf und ein eigenes Bett. Wer sich des materiellen Überflusses entledigt, flirrt seltsam erleichtert durch die Welt und bekommt ein Gefühl dafür, was es heißt, wirklich frei zu sein.
Trotzdem: Große Teile unserer Existenz manifestieren sich in der Materialität, die uns umgibt. In Dingen, die unser Dasein bezeugen und unsere Vorlieben, unsere Persönlichkeit, unsere Geschichte und unseren Status in der Gemeinschaft widerspiegeln. Es scheint beinah in uns angelegt, immer mehr von diesen Identitätsbezeugungen anzuhäufen. Wer mehr besitzt, ist folglich mehr da. Und je stärker wir unser Sein in die uns umgebende Dinglichkeit einschreiben, umso schwerer fällt es, loszulassen.
Weiterschauen: Interview mit Regisseur Christian Moris Müller und Max Riemelt…
Katharina (Theresa Scholze) und Steffen (Max Riemelt) fassen dennoch den Entschluss, alle Beweisstücke ihrer irdischen Existenz zu vernichten. Alles soll zurück auf Anfang gesetzt werden, zurück auf Null. Weg mit der schönen Wohnung, der teuren Einrichtung, den tollen Jobs und dem Geld auf ihrem Konto. Das einzige, woran sie festhalten möchten, ist ihre Liebe zueinander. Wirkliche Freiheit lautet das Ziel, das nach Jahren als konforme Mitglieder der Konsumgesellschaft nicht nur immer weiter in die Ferne gerückt ist, sondern gleichzeitig als fremdartige und abstrakte Idee in den Köpfen des Paares vibriert.
„Ihr habt doch Luxusprobleme!“, sagen ihre Freunde Robert und Paul dazu. Unverständnis und Irritation ist die Reaktion auf ihr Vorhaben. Damit haben sie gerechnet. Der Plan steht trotzdem. Möbel, Bilder, Textilien und Erinnerungen werden euphorisch zersägt, zerrissen und zertreten, Geldscheine werden portionsweise in Plastiktüten verpackt und wahllos in der Öffentlichkeit verteilt. Spätestens jetzt gibt es kein Zurück mehr.