Sehsüchte 2013: Festivaltagebuch

Pendeln zwischen Mut und Befindlichkeiten


Abstimmen für Nico Sommers "Silvi"

Abstimmen für Nico Sommers "Silvi"

Tag 2: Burger und Rollenspiele

Der Whopper ist leider schon kalt. „Geben Sie mir das, was sie mir am schnellsten verkaufen können!“, hatte ich die Burger King-Verkäuferin angeplärrt, bevor ich in die dieses Mal wesentlich leerere S-Bahn gesprungen bin. Auf dem Nachbarsitz fingert ein Opi nervös an einem Gesellschaftsspiel herum, das den Namen „Killer Karnickel“ trägt. Muss wahnsinnig aufregend sein. Ich hingegen widme mich der heutigen Agenda und wälze während der Fahrt das Sehsüchte-Programmheft, das dieses Jahr im WELT KOMPAKT-Zeitungsformat produziert wurde. Ist mit seinen knapp 100 Seiten nur leider nicht ganz so praktisch. Die Entscheidung ist schnell getroffen; zuerst schaue ich mir „Zwei Mütter“ von Anne Zohra Berrached an und im Anschluss wartet ein echtes Highlight, das mir schon während der Berlinale leider entgangen ist: „Silvi“ von Nico Sommer. „Zwei Mütter“ stellt sich als das Portrait eines lesbischen Paares mit sehnlichem Kinderwunsch heraus.  Isabelle und Katja scheitern bei ihrer Nachwuchsmission an Bürokratie, an Diskriminierung, an der bereits austickenden biologischen Uhr und an potenziellen Samenspendern, die nur auf natürlichem Wege“ ihren Beitrag leisten wollen. Als schließlich ein Spendervater gefunden ist, der sich auch mit einem Plastikbecher zufriedengibt, droht die Beziehung der beiden Frauen zu zerbrechen.

Silvi“ hingegen hat ein ganz anderes Problem: Gleich zu Beginn des Films macht ihr langjähriger Ehemann auf der Heimfahrt vom Supermarkt mit ihr Schluss. Silvi, Ende 40, hatte abgesehen von ihrem Michael noch nie einen anderen Mann. Das soll sich jetzt ändern. Ihre Suche nach Liebe führt sie als spätes Single-Mädchen zu animalisch-rumrammelnden Busfahrern, koksenden SM-Spezialisten und unförmigen Übervatis mit Lustsklaven-Komplex. Total überspitzt oder? Nee, verdammt nah an der Realität! „Silvi“ verbildlicht die reale Geschichte einer Bekannten Sommers, deren Erfahrungen das hier anwesende Publikum in Erstaunen versetzen. Ich persönlich finde das ehrlich gesagt nicht so erstaunlich. Solche Geschichten von Weirdos, Pennern und Perversen gibt es wie Sand am Meer, die eigentliche Kunst besteht nur darin, sie gut zu erzählen. Und das hat Nico Sommer, der anschließend per Videobotschaft wie der Heilige Vater persönlich mit Strickjacke und Teetasse zu uns Zuschauern  herunter spricht, definitiv geschafft. Leider kann er persönlich nicht anwesend sein, weil er zu „so einem anderen Filmfestival“ musste. Sommer hat am selben Abend beim achtung berlin ordentlich abgeräumt. Auch das überrascht mich nicht.

1 2 3 4 5 6