Sehsüchte 2013: Festivaltagebuch
Pendeln zwischen Mut und Befindlichkeiten
Fast die ganze letzte Woche bin ich zwischen Berlin und Potsdam hin- und hergefahren. Eigentlich verdiene ich kein Mitleid, man denke nur an die armen HFF-Studenten, die diese Strecke viel öfter auf sich nehmen müssen. Trotzdem haben sie es in diesem Jahr zum 42. Mal geschafft, ein besonderes Festival auf die Beine zu stellen. Und weil Sehsüchte mit seiner herzlichen Atmosphäre, seinen hochwertigen Filmbeiträgen und seinem amüsanten Rahmenprogramm mein persönliches Lieblingsfestival ist, folgt an dieser Stelle ein sehr persönliches Filmfestival-Tagebuch.
Tag 1: Garçon, mehr Wein!
„Ich werde mich irgendwie zu dir durchquetschen“, tippe ich ins Handy, eingekeilt zwischen einem Kinderwagen und einer Gruppe Handwerkern. Dienstag, 17 Uhr, Feierabendverkehr. Die S7 platzt aus allen Nähten, zumindest im Mittelteil. Daniel, mein Plus 1 für die Sehsüchte-Eröffnungsfeier, war offensichtlich schlauer, als er in den weniger frequentierten, ersten Waggon gestiegen ist. „Hihi“ schreibt er mir von dort aus zurück. Während sich die Bahn angestrengt vom Alexanderplatz in Richtung Westen schiebt, presse ich mich parallel durch Abteile und vorbei an Touris und Berufspendlern. Am Ende meiner Quetsch-Odyssee warten schließlich Daniel, ein Sitzplatz und die Aussicht auf weitere 30 Minuten Fahrt. Potsdam ist wirklich verflucht weit weg. Aber für manches lohnt sich der Weg.
Immerhin schaffen wir es, pünktlich um 18 Uhr beim Rotor Film auf dem Babelsberg-Studiogelände auf der Matte zu stehen. Auf den Stress gibt’s erstmal ein Sektchen. Die drei Festivalleiter Hauke, Kati und Robert eröffnen den Abend, bevor die brandenburgische Wissenschaftsministerin Sabine Kunst ausgiebig von Prominenten wie Gustav Fröhlich oder Heiner Carow schwärmt, die zeitweise in der Filmstadt residierten. Ein „Rundum-Wohlfühlpaket“ ist laut Frau Kunst in den kommenden Festivaltagen zu erwarten, ihr Anschlussredner Prof. Martin Steyer betont als Vizepräsident der HFF lieber die „positive Spannungsstimmung“ – was auch immer das sein mag, aber es klingt gut. Der anschließende Eröffnungsblock verpackt diese Prognosen in eine ansprechende Bildsprache. Ein HIV-positiver Künstler fotografiert sogenannte Muscle Bears in erotischen Posen („Through the lens of inked Kenny„), während auf dem britischen Arbeitsamt eine Jobberaterin mit einem Bolzensetzgerät unverhofft hingerichtet wird („The Mass of Men„). Zwischendurch werden mit „Nashorn im Galopp“ noch ein paar desillusionierte Ansichten zum repressiven Spirit von Berlin preisgegeben. Immer dieses deutsche Befindlichkeitskino! Aber dazu kommen wir später noch.
Danach ist der Kopf voll und der Magen leer. Wie im letzten Jahr wird im Foyer der HFF anschließend ein ordentliches Buffet mit Shrimp Cocktails, Gratins und Pastavariationen aufgefahren. In der Schlange krallt sich die Frau vor mir daher lieber besser einen größeren Teller und ich folge ihrem Beispiel. Beim Essen klimpert im Hintergrund ein Jazz-Ensemble „Je t’aime“ – hach Daniel, wir sind so dekadent! Als zu späterer Stunde schließlich eine vorzeitig gealterte Jive-Band die Generationskluft mit dem Publikum überwinden will, stürmen plötzlich vier Rock’n’Roll tanzende Paare auf die Tanzfläche. Zuletzt habe ich sowas bei der Ultimativen Chartshow gesehen, gleich kommt bestimmt Oli Geissen um die Ecke. Die Band legt sich mit Retro-Hits wie „Scharfe Biene“ und „Just a Gigolo“ so richtig ins Zeug. „Ich find‘s schön, wenn alte Leute noch Hobbies haben“, resümiert Daniel verträumt und ich spucke fast die letzte Pfütze Rotwein wieder aus. Aber so ganz jung sind wir beide ja auch nicht mehr, also auf zur S-Bahn und 90 Minuten Heimweg hinter sich bringen. Auf mich wartet schließlich noch ein straffes Programm in den kommenden Tagen.