30. FilmFestival Cottbus: I NEVER CRY von Piotr Domalewski


Der Filmtitel lässt es bereits erahnen: Ola ist eine coole, mutige, witzige und starke junge Frau, die natürlich doch manchmal weint und die auf der Reise nicht nur ihrem verstorbenen Vater näher kommt, sondern auch sich selbst. So findet die klassische Verbindung zwischen Coming-of-Age-Geschichte und Reise auch in I NEVER CRY Anwendung. Ola weiß, sich zu behaupten, begreift schnell, lässt nicht locker und tut alles, um die Überführung des Leichnams trotz Geldmangel möglich zu machen. Im winterlich-kühlen Dublin wächst die Jugendliche über sich hinaus. Wie in einem Puzzle kann Ola durch ihre Hartnäckigkeit und ihren Spürsinn immer mehr Teile zu einem Bild des Lebens zusammensetzen, das ihr Vater in Irland geführt hat – und von dem ihre Mutter und sie jahrelang nichts ahnten.

Neben der emotionalen Geschichte über eine Tochter und ihren verstorbenen Vater wirft Domalewski in seinem in dunklen Farben gehaltenen Film so auch einen sozialkritischen Blick auf die Situation der Arbeitsmigrant:innen in Dublin – und auf deren Familien, die oft im Heimatland zurückbleiben und sich dort allein durchschlagen müssen. Denn anders als in Lina Lužytės THE CASTLE über eine gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter nach Dublin emigrierte Teenagerin, lebt in I NEVER CRY eine Familie über Jahre hinweg getrennt. Mit der von ihrem Vater entfremdeten Ola bringt Domalewski eine Heranwachsende auf die Leinwand, die wegen der Arbeitsmigration im europäischen Raum ohne ihren Vater aufgewachsen ist – und gibt damit Millionen zumeist osteuropäischen Kindern und Jugendlichen, den sogenannten „Euro-Waisen“, ein Gesicht und eine Stimme.

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Das FilmFestival Cottbus zeigt den bewegenden und mit allerhand raubeinigem Humor gespickten 90 Minuten langen I NEVER CRY, den der polnische Regisseur Piotr Domalewski u.a. bei Connecting Cottbus entwickelte, über die toughe Ola und ihre Reise, gemeinsam mit dem Braunschweig International Filmfestival, das im November online stattfand, als Deutschlandpremiere. Seine Weltpremiere erlebte I NEVER CRY 2020 auf dem Filmfestival in San Sebastián in der Reihe New Directors. Der Regisseur gewann international zahlreiche Preise für seinen Film SILENT NIGHT aus dem Jahr 2017. In seinem zweiten Langfilm I NEVER CRY bleibt Domalewski, der auch das Drehbuch schrieb, ist er nah bei seiner sich nach Unabhängigkeit sehnenden Protagonistin Ola, die von der Filmstudentin Zofia Stafiej in ihrer ersten Filmrolle überzeugend und eindrücklich gespielt wird. Olas Traum vom eigenen Auto und der damit verbundenen Freiheit zieht sich durch den gesamten Film – und führt zu einem so überraschenden wie berührenden Ende.

Stefanie Borowsky

I NEVER CRY (OT: JAK NAJDALEJ STAD), Regie: Piotr Domalewski, Darsteller: Zofia Stafiej, Kinga Preis, Arkadiusz Jakubik, Dawid Tulej

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