BFF On The Road: Nordische Filmtage Lübeck 2015


"Granny's Dancing on the Table" von Hanna Sköld. ©Nordic Factory Film

„Granny’s Dancing on the Table“ von Hanna Sköld. ©Nordic Factory Film

Tag 3: Umerziehung

Der dritte Tag beginnt mit einer auf den Tischen tanzenden Großmutter. Natürlich nur im übertragenen Sinn. Es geht um das Leben und die vor einigen Jahren von Peter Sloterdijk so ausdrücklich formulierte These: „Du musst dein Leben ändern.“ Im Film „Granny´s Dancing on the Table“ wächst Eini bei ihrem Vater verborgen in den Tiefen eines unbekannten Waldes in Schweden auf. Die Welt da draußen sei zu gefährlich, hat sie gelernt, weshalb es besser sei, versteckt zu bleiben. Seit sie vor 13 Jahren geboren wurde, lebt sie hier. Anfangs lebten noch ihre Mutter und ihre Tante Lucia mit ihr und ihrem Vater zusammen, doch die sind in der Zwischenzeit verschwunden. Eini ist nicht die erste, die sich in das Schicksal einfügen soll, in der Abgeschiedenheit ihr Dasein zu fristen. Schon ihr Vater wuchs in diesem Haus bei seiner Tante Lucia und ihrem Mann Harald auf. Seine Mutter, Einis Granny, wurde von Harald aber mit der Begründung vom Hof verjagt, dass alleinerziehende Mütter keine Kinder großziehen dürften. So musste Granny ihren Sohn bei ihrer Zwillingsschwester Lucia und Harald zurücklassen und machte sich auf in die Welt, wo sie – die lebenslustige, vorlaute und ungestümere der beiden Schwestern – das Abenteuer suchte und ein lebendiges Leben fand. Sie ist im Film die Figur, die den Hunger nach Leben darstellt und für ihre Enkelin zum Symbol des Überlebens wird.
In ihren sehnsüchtigen Briefen beschrieb Granny in all den Jahren ihrem Sohn und ihrer Schwester die an Eindrücken reiche Welt da draußen. Lucia blieb einzig die Träumerei davon. Sie und Einis Vater müssen stattdessen den freudlosen und tyrannisierenden Harald ertragen. Er bestimmt das Leben auf dem Hof, tötet jedes Lachen und jede Lebensfreude im Haus. Schließlich tritt Eini in die Fußstapfen ihres traumatisierten Vaters und muss unter ihm ähnlich erdrückenden Terror erleiden. Detailreiche Stop-Motion-Animationen dienen der schwedischen Regisseurin Sköld, um dem Zuschauer Zugang zu Einis Innenwelt zu gewähren, denn das stille Mädchen, das nur spricht wenn es zu Antworten auf des Vaters Fragen genötigt wird, gibt nicht viel preis über ihre Gefühle oder die Dinge, die ihren Kopf beschäftigen. Liebevoll gestaltete Knetfiguren bebildern deshalb die Gedanken, Sehnsüchte und Fantasien des Mädchens. Hanna Skölds Film „Granny´s Dancing on the Table“ beschreibt familiäre Lebensläufe und die Tatsache, dass sich diese offenbar über Generationen zu vererben scheinen. Die Frage ist, ob es sich dabei um ein Erbe handelt oder um die Übernahme von Verhaltensnormen, die besonders in der Abgeschiedenheit kaum veränderbar sind. Selbst wenn sich Fluchtgedanken immer wieder auftun, so ersticken sie bereits im Keim beim bloßen Gedanken an die unüberwindbare Weite ihrer Umgebung. Denn steigt man mal hinauf auf die gerodeten Hügel, um den Horizont zu suchen, liegt einem ein grünes Meer zu Füßen, das keinen Anfang und kein Ende zu kennen scheint. Ein Ausbruch aus dieser Anderwelt scheint kaum möglich, am Ende aber nicht ganz aussichtslos. Hanna Sköld leitet an diesem Tag mit ihrem harten, aber bemerkenswerten Film einen Tag ein, der fast ausschließlich Veränderungen fordert.

Szene aus "Overgames". ©Lutz Dammbeck Filmproduktion

Szene aus „Overgames“. ©Lutz Dammbeck Filmproduktion

Den diskussionswürdigsten Film des Tages bringt Lutz Dammbecks „Overgames“ auf die Filmtage mit. Schon im Vorfeld weiß das Publikum, dass es Sitzfleisch für die 169 Minuten Dokumentation braucht. Doch die Zuschauer treibt die Erwartung in den Kinosaal, hier über ein interessantes Phänomen der Nachkriegszeit aufgeklärt zu werden: der Versuch nachzuweisen, dass es im Rahmen der Re-Education in Westdeutschland zur Entwicklung von Gameshows kam, die auf den Methoden US-amerikanischer Therapien basieren, die man aus der Anwendung in Psychiatrien kennt. Dammbeck („Das Netz„) hatte diese Aussage zufällig 2005 im Fernsehen von Joachim Fuchsberger aufgeschnappt. Der erklärte an jenem Nachmittag in einer Talkrunde mit Anne Will: die Spiele seiner Sendung „Nur nicht nervös werden“ von 1960 seien in einer Psychiatrie entwickelt worden. Von dieser Frage und der Überlegung ausgehend, von welcher Krankheit, die Westdeutschen denn hätten geheilt werden müssen, begibt sich der aus Leipzig stammende bildende Künstler auf eine Recherchereise durch die US-amerikanischen TV-Archive, Medizinstudien und etliche historische, kunsthistorische, anthropologische, soziologische und psychologische Querverweise. Sein Film ist das Dokument dieser seit 2004 andauernden Recherche.

"Overgames"-Regisseur Lutz Dammbeck. ©Lutz Dammbeck Filmproduktion

„Overgames“-Regisseur Lutz Dammbeck. ©Lutz Dammbeck Filmproduktion

Herausgekommen ist dabei ein Ideenatlas verschiedenster assoziativ verknüpfter Indizien und Dokumente, die sich zu einem in seiner Fülle dicht gestrickter Verweise vereinenden, aber stets offenen und eher vagen Bilderreigen verbinden. Am Ende brummt den meisten Zuschauern der Schädel und viele verlassen mit sehr vielen Fragezeichen den Saal. Aber Dammbeck ist nicht angetreten und bislang nicht bekannt dafür, Antworten auf seine in den Fokus gerückten Fragen liefern zu wollen. Er betrachtet sich eher als Impulsgeber, um grundsätzliche Fragen zum System Gesellschaft anzustoßen. Die Diskussion zum Film, auf die niemand im Saal verzichten möchte, da offenbar einige eine Art Wissensfrust während des Screenings entwickelt haben, wird kurzerhand an ein paar Tische ins Kinofoyer verlegt. Hier entlädt sich schon nach wenige Minuten eine hitzige Debatte, denn das Gros der Zuschauer war mit der enzyklopädischen Informationsmenge im Film schlichtweg überfordert und fühlte sich atemlos im Sessel zurückgelassen. Der Filmemacher rettet sich zunächst in ein Voltaire-Zitat und sagt: „Geschichte ist die Lüge, auf die sich alle geeinigt haben.“ Das allerdings provoziert noch frustriertere Gesichter, die relativ schnell versuchen, streitlustig nachzuhaken. Doch Dammbeck reagiert in scheinbar leicht überheblicher Art, cool aber verständnislos auf die Fragen mit weiteren assoziativen Andeutungen, bei denen sich erneut die Köpfe in einem Meer von Fragezeichen baden. Das Problem zwischen Erzähler und Zuhörer ist in diesem Fall, dass es sich hier um gar keinen Erzähler oder gar wissenschaftlichen Aufklärer handelt, sondern einen Künstler, der sich mit den ihm eigenen Methoden seinem neuen Werk widmet. Die Zuschauer aber, die durch das Versprechen der Synopsis in den Film gelockt wurden, hier könnte eine klare und möglicherweise wissenschaftlich belegbare Spur verfolgt werden, die neue und vielleicht sogar manipulative Erkenntnisse liefern, über die in Westdeutschland nach Ende des Zweiten Weltkrieges durchgeführte sogenannte „Re-Education“, stehen enttäuscht vor leeren Tellern. Besonders hilfreich scheinen Dammbecks Antworten nicht. Als schlussendlich die Diskussion in einer recht plakativen, weil wenig differenzierten Debatte an dem das gesellschaftliche Zusammenleben zerstörenden Kapitalismus mündet, verdrehen einige nur die Augen und verlassen die kleine Diskussionsrunde. Andere geben sich nicht so schnell geschlagen und versuchen doch noch einmal nachzuhaken. Die Zeit, um die großen Themen noch einmal konkreter zu beleuchten, ist aber kaum vorhanden. Auch der Raum für derartige Diskussionen scheint schlecht gewählt. Am Ende lässt sich die verquere Runde aber vielleicht auch nur auf eine eher typische Fehlstelle in der Kommunikation reduzieren: die des genauen Zuhörens und miteinander Redens. Wenn nur mit Phrasen auf konkrete Fragen geantwortet wird und das wiederholtermaßen, aus welcher Motivation heraus auch immer, ob lehrmeisterlich oder eigenem Unwissen, kann am Ende nur ein Gefühl des Nicht-Ernst-Genommen-Werdens und damit eine leichte Verstimmung entstehen. Fakt ist dennoch, dass sich dieser Film trotz aller Widersprüche lohnt, um Einblicke in Studien zu erhalten, die sonst keiner so schnell in den Händen hält. Und schon im April 2016 soll der Film sogar auf Kinotour durch ausgewählte Programmkinos gehen und im Anschluss diskutiert werden. Eine Art „Overgames“ reloaded.

SuT

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