BFF Festival Tagebuch im Berliner Fenster – extended version


Für das Fahrgastfernsehen Berliner Fenster führt Berliner-Filmfestivals.de ein Festivaltagebuch von der 2024er Berlinale.

14.2. Rollt die Teppiche raus… die Woche der Kritik beginnt
Die 74. Berlinale rollt ab morgen in der Stadt ihre roten Teppiche aus. Leserinnen und Leser des Berliner Fensters dürfen sich an dieser Stelle auf das gemeinsame Tagebuch freuen, in dem das Onlinemagazin berliner-filmfestivals.de vom größten Filmfestival der Stadt berichtet. Das letzte Programm, das die scheidende Berlinale-Doppelspitze Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek auf die Beine gestellt hat, verspricht eine Menge! Einen Tag vor der Öffnung legt die „Woche der Kritik“ vor und eröffnet die goldenen Kinotage mit der Konferenz „Filmemachen um jeden Preis? – Kino, Kritik, Klimakrise“!

15.2. Vorhang auf!
Mit Cillian Murphy, bekannt als Tommy Shelby aus PEAKY BLINDERS und frisch mit dem Golden Globe für seine Performance als „Vater der Atombombe“ in OPPENHEIMER ausgezeichnet, besucht heute ein echter Superstar die 74. Berlinale! Der Ire übernimmt die Hauptrolle im Eröffnungsfilm SMALL THINGS LIKE THESE (Regie: Tim Mielants), der im Wettbewerb um den Goldenen Bären antritt. Berlinale-Leiter Chatrian kündigt an: „Wir sind sicher, dass diese Geschichte, die den Einsatz für Schwächere und den Willen, sich gegen Ungerechtigkeit zu wehren, vereint, alle begeistern wird.“ So sei es!

16.2. Glitzer, Politik und Cillian Murphy
Gestern Abend ist die 74. Berlinale feierlich gestartet. Im bis auf den letzten Platz gefüllten Berlinale Palast begann das größte Publikumsfilmfestival der Welt mit nachdenklichen, politischen Worten. Dabei reflektierte die kaufmännische Leitung Mariette Rissenbeek nicht nur die Ausladung der zwei AfD-Abgeordneten, sondern thematisierte auch die weltpolitische Lage und sprach sich dafür aus, die Zivilisten im Nahostkonflikt zu schützen. Claudia Roth, die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, forderte in leidenschaftlichen Worten eine gesellschaftliche Abgrenzung gegen Rechts – wie im Übrigen auch der amtierende Bürgermeister von Berlin, Kai Wegner (CDU).
Auch der Glamour-Faktor kam nicht zu kurz! Moderatorin Hadnet Tesfai begrüßte nicht nur deutsche Schauspielgrößen wie Meret Becker, sondern auch den Oscaranwärter Cillian Murphy (OPPENHEIMER) in Berlin und nahm (fast) auf dem Schoß von Matt Damon Platz. Im Anschluss an die eröffnenden Worte und die Vorstellung der Internationalen Jury unter Lupita Nyong’o (12 YEARS A SLAVE), the „first black president of the festival“, wurde der Eröffnungsfilm SMALL THINGS LIKE THESE von Tiem Mielants gezeigt, der erste von 20 Beiträgen im Hauptwettbewerb. Insgesamt zeigt das Festival 239 Filme aus 80 Ländern. Es ist die letzte Leitung unter dem Führungsduo Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek, bevor Tricia Tuttle – die unter anderem das London Film Festival geleitet hat – die Intendanz des Festivals übernimmt.

17.2. Aufmerksamkeit schaffen
Die schöne Tradition, dass das iranische Kino auf der Berlinale glänzt, sich klug erzählend über Restriktionen hinwegsetzt und dafür immer wieder mit wichtigen Preisen bedacht wird, begleitet die sehr unschöne Tradition, die Filmemacher_innen aus dem Iran ihren Job oder auch die Reisen zum Festival verbietet – und so verpasste das Regie-Duo Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha die Weltpremiere ihrer Komödie MY FAVOURITE CAKE ebenso wie die Standing Ovations noch vor Beginn des Films. Die Forderung der Berlinale-Leitung Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek an die iranischen Behörden, die Pässe zurückzugeben und Beschränkungen aufzuheben, sie verpuffte erfolglos. Leider. Und doch zeigt das Festival so (s)eine Stärke: Es schafft Aufmerksamkeit für Ungerechtigkeiten!

18.2. Filmfestivallife
Wir sind mitten im Festivalleben der Berlinale angekommen. Die Buchungswebseite gehört wie Kaffee und Dusche zur Morgenroutine. Danach viel Dunkel, nur rare Tageslicht- oder gar Sonnenmomente durchbrechen die Zeit vor Kinoleinwänden. Unterschiedlichste (Film-)Welten wollen entdeckt werden. An der Seite der Ikone beginnt mit dem Tourfilm TEACHES OF PEACHES der eigene Kurztrip des Tages, der mit A DIFFERENT MAN erst nach New York ans Theater und wenig später mit CUCKOO in die Alpen und durch eine Horrorfilmzitatesammlung führt. Dazwischen Warnungen vor ANOTHER END, Schnack über Dresens HILDE und einvernehmliches Lob zu LA COCINA…

Weiterlesen: Hier Henning Kochs Filmkritik „Hell’s Kitchen zu LA COCINA…

19.2. Wiedersehen
Prag – Berlin – Tokyo – Berlin – Prag, das sind Stationen des Lebens von Libuše Jarcovjáková. Da die queere Fotografin ihr Leben praktischerweise mit analogen Fotografien und Tagebucheinträgen selbst dokumentiert hat, brauchte es mit Klára Tasovská „nur“ jemanden, um das Ganze in das filmische Dokument „I’m Not Everything I Want to Be“ zu verwandeln. Eine Episode des bewegten Lebens, schrieb das Festival selbst fort und überraschte nach der Weltpremiere im International die Künstlerin mit dem Besuch von Holger… mit dem Jarcovjáková einst eine Scheinehe einging, um überhaupt nach Westberlin ziehen zu können!

20.2. Filmfestivalzukunft
Daniel Craig, Franz Rogowski oder Alicia Vikander… sie alle duften sich Berlinale Shooting Star nennen, also die Internationalen Filmfestspiele in Berlin als Rampe nutzen, um von dort aus zu den Sternen aufzusteigen. Gestern kürte das Festival im Berlinale Palast die 2024er-Klasse, also deren Nachfolge. Als Patin und erste Gratulantin stand die wunderbare Corinna Harfouch parat, die selbst erst am Vortag in Glasners STERBEN mal wieder ihre Schauspielkunst aufführte. Durch den Abend führte gekonnt Jenny Augusta, die der zarten Polin Kamila Urzędowska, die mit THE PEASANTS der beim Gdynia Film Festival groß abräumte, ebenso Raum einräumte wie der energetischen Margarita Stoykova aus Bulgarien, die im Herbst beim Filmfestival Cottbus mit DYAD begeisterte, oder der Französin Suzy Bemba, der sich dank Oscar-Kandidat POOR THINGS zahlreiche Türen gerade schon öffnen. Viele der zehn Jungstars dürften schon bald wieder beim Filmfest zu Gast sein!

21.2. Der Altmeister
Martin Scorsese hat den Goldenen Ehrenbären für sein Lebenswerk in Empfang genommen. Die Ankunft des Meisterregisseurs, der schon 1981 mit „Wie ein wilder Stier“ und später mit „Gangs of New York“ oder „Shutter Island“ bei der Berlinale zu Gast war, die er 2008 mit der Stones-Doku „Shine a light“ eröffnete, wurde herbeigesehnt. Abgebrühte Kritiker_innen checkten Flughafenstreikpläne und verwandelten sich erleichtert in Fans, die an Martys Lippen hingen, wenn der anekdotenreich über sein Leben, also das Kino, sprach. Weitere Auszeichnungen werden folgen, sein „Killers of the Flower Moon“ ist für zehn Oscars nominiert.

22.2. Schauwerte gesucht
Aufmerksamkeit erzeugen, Neugierde wecken und vom Film erzählen – all das in nur einem Augenblick. Die Aufgaben sind vielfältig wie komplex, kaum zu bewältigen und doch gelingt Filmplakaten eben das seit über 100 Jahren. Auf der 74. Berlinale suchen Besucher_innen diese oft vergeblich und vermissen sie. Waren früher die Spielstätten und deren Umgebungen fast tapeziert mit den so unterschiedlichen Kunstwerken, fehlen sie in diesem Festivaljahr dem Stadtbild sehr. Gegen das Verschwinden erzählt das Kulturforum mit seiner Ausstellung „Großes Kino, Filmplakate aller Zeiten“ an. Ein Besuch lohnt.

Weiterlesen: Hier Henning Kochs Kritik zu THE OUTRUN von Nora Fingscheidt…

23.2. Talents
Noch vor der Vergabe der Bären gingen die Berlinale Talents zu Ende. Die 22. Ausgabe der noch von Dieter Kosslick ins Leben gerufenen Talentförderungs-Initiative für rund 200 Filmschaffende aus 68 Ländern – zu dessen Alumni unter anderem auch Nora Fingscheidt (THE OUTRUN, SYSTEMSPRENGER) gehört – hat auch einen wunderbaren Nebeneffekt für das Publikum: Die Talents begrüßen die Stars des Festivals zu Talks, in diesem Jahr etwa den Ehrenbären-Gewinner Martin Scorsese und die Jury. Am letzten, ausverkauften Abend war im HAU Berlins vielleicht größter feministischer Provokations-Star zu Gast: Die kanadische Künstlerin Peaches führte Kostüme vor, unter anderem ihr legendäres Brüste-Kostüm. Die Tourdoku TEACHES OF PEACHES war im Panorama zu sehen.

24.2. Goldiges Bären-Geflüster
Der Wettbewerb der letzten Berlinale unter der Regie von Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek hat Kritik, aber auch Publikum eher enttäuscht, ein Filmwunder hat niemand gesehen. Lupita Nyong’os Jury ist nicht zu beneiden, aber wird sicher weise aus stärkeren Werken wie VOGTER, LA COCINA oder DAHOMEY, neben die sich auch Dresens IN LIEBE, EURE HILDE und Glasners STERBEN einreihen, wählen. Am Freitag bedachte die FIPRESCI Jury den iranischen Beitrag MY FAVOURITE CAKE mit ihrem Award, ansonsten scheint die internationale Kritik den starken Genrefilm DES TEUFELS BAD in einer Favoritenrolle zu sehen.

Weiterlesen: Die Kritik „Die Rückkehr der Kulturschätze Benins von Marie Ketzscher zum Siegerfilm der 74. Berlinale…

25.2. And the Winner is…
Mit der großen Gala zur Preisverleihung schärften die 74. Internationalen Filmfestspiele noch einmal ihr Profil. Der scheidende Leiter Carlo Chatrian übergab an Nachfolgerin Tricia Tuttle und hob im Blick zurück die Bedeutung des Publikums für die Berlinale hervor. Als Teil davon will er im nächsten Jahr nach Berlin zurückkehren. Mit den Preisen, der Goldene Bär ging an die Restitutions-Doku DAHOMEY von Mati Diop, aber vor allem mit den Statements vieler Juror_innen und Preisträger_innen rückte die Politik in den Vordergrund und damit die mehrfach geäußerte Forderung einer humanitären Feuerpause im Gaza-Krieg.

26.2. Der Bärendienst
Die 74. Berlinale endete mit vollen Kinos an ihrem Publikumstag. Doch statt die Filmtage Revue passieren zu lassen, drehten sich viele Gespräche um die Gala vom Vortag. Das Filmfest, seine Jury, das Publikum und die Preisträger_innen, sie alle sollten die eigene Rolle reflektieren. Denn kaum jemand spricht über die, um die es bei Filmfesten geht, die (Sieger-)Filme. Denen sollte die große Bühne gebühren. Doch Politik, Kultur und Gesellschaft buchstabieren die Statements des Abends aus. Ein Bärendienst – und zwar ganz unironisch und im schlechtesten Sinne. Auf die neue Leiterin Tricia Tuttle wartet eine Menge Arbeit.