Best of 2023: Die Lieblinge der BFF-Redaktion


THE ZONE OF INTEREST © LEONINE Distribution
THE ZONE OF INTEREST © LEONINE Distribution

Filmische Redaktions-Best-Ofs sind eine tricky Sache. Oft stimmen Kritiker*innen über eine bestimmte Filmauswahl mit unterschiedlichen Wertungen ab und schaffen so eine große Vergleichbarkeit. Aber bei einer Redaktion wie der unseren sind Geschmäcker, Engagements und eigenes kuratorisches Involvement einfach zu unterschiedlich, als das man eine Liste à la „Das sind die zehn Filme des Jahres“ zusammen kriegt. Enthusiastisch, aber eklektisch – das ist BFF.

Wir haben uns deshalb – auch schon fast traditionell – dafür entschieden, einer und einem Jeden selbst zu überlassen, wie die Priorisierung der Topfilme 2023 gestaltet wird und in welcher Form. Von reinen Bullet Points bis zur längeren Begründung sowie dem Countdown nach oben und nach unten ist alles dabei.

Bei aller Unterschiedlichkeit lassen sich natürlich trotzdem verbindende Elemente herauslesen. Bei den Langfilmen wurden ANATOMIE EINES FALLS, ALL OF US STRANGERS, BARBIE, DAAAAAALI!, PAST LIVES, FALLEN LEAVES, ROTER HIMMEL und SUZUME mit zwei Ehrenplätzen in den TOPs versorgt; bei den Dokumentarfilmen waren ebenfalls zwei Autor*innen von APOLONIA, APOLONIA hingerissen und bei den Kurzfilmen begeisterte, ebenso zweifach, OURS. Trommelwirbel und quasi größter roter Faden: Gleich dreimal haben es DAS LEHRERZIMMER sowie THE ZONE OF INTEREST – der erst 2024 in Deutschland anläuft – auf die Bestenlisten unserer Autor*innen geschafft.

Wir wünschen euch ein fröhliches cineastisches Inspiriert-Werden bei unseren TOP 10s, TOP20s, TOP30s… usw!

Marie Ketzscher

Leonie Benesch in DAS LEHRERZIMMER. © Alamode Film

Filme:

DAS LEHRERZIMMER von İlker Çatak
ANGRY ANNIE von Blandine Lenoir
THE QUIET GIRL von Colm Bairéad
JOAN BAEZ I AM A NOISE von Miri Navasky, Karen O’Connor und Maeve O’Boyle
LADYBITCH von Paula Knüpling und Marina Prados
INSHALLAH A BOY von Amjad Al Rasheed
ANATOMIE EINES FALLS von Justine Triet
PARADISE IS BURNING von Mika Gustafson
DANCING QUEEN von Aurora Gossé
HOW TO HAVE SEX von Molly Manning Walker
WO IST ANNE FRANK von Ari Folman
SORRY GENOSSE von Vera Maria Brückner
THE ZONE OF INTEREST von Jonathan Glazer
MISSION ULJA FUNK von Barbara Kronenberg
FALLEN LEAVES von Aki Kaurismäki
SPRICH MIT MIR von Janin Halisch

Kurzfilme:

MA MÈRE ET MOI von Emma Branderhorst
LA MUJER COMO IMAGEN, EL HOMBRE COMO PORTADOR DE LA MIRADA (IT: WOMAN AS IMAGE, MAN AS BEARER OF THE LOOK) von Carlos Velandia
OURS von Morgane Frund
MARGARETHE 89 von Lucas Malbrun
THE THIRTEENTH YEAR von Samad Alizadeh
MADAR BASTEH (IT: CCTV) von Samira Karimi
ANANSI von Aude N’Guessan Forget
CHAT MORT (IT: DEAD CAT) von Annie-Claude Caron und Danick Audet
LITTLE TO BIG von Ellinor Hallin und Ellen Fiske
LA HISTORIA INTERMINABLE (IT: THE NEVERENDING STORY) von David Valero
LA BOUCHE EN CŒUR (IT: CUPID’S BOW) von Manon Tacconi
VERRÜCKTES BLUT von Can Tanyol
SWEET DREAMS von Sara Priorelli und Maria Zilli 
LA HERIDA LUMINOSA (IT: DAYDREAMING SO VIVIDLY ABOUT OUR SPANISH HOLIDAYS) von Christian Avilés
TONDEX 2000 von Jean-Baptiste Leonetti
MADDEN von Malin Ingrid Johansson

Serien:
IN THERAPIE (ARTE), NONA UND IHRE TÖCHTER (ARTE), THE MARVELOUS MRS. MAISEL (Amazon Prime), SEX EDUCATION (Netflix)

Stefanie Borowsky

THE MIRACLE © Miyu Distribution
THE MIRACLE © Miyu Distribution

Mein jährliches Best-Of lässt sich mal wieder in keine einheitliche TOP 10 quetschen – ich bin einfach bei zu vielen Festivals, vor allem Animations- und Kurzfilmfestivals, als dass mich hier so limitieren kann. Stattdessen also drei TOP 10, die sich auch nicht an aktuellen Produktionen oder Kinostarts orientieren, sondern tatsächlich einfach Filme umfassen, die mich 2023 geflasht oder länger (im Positiven) beschäftigt haben, darunter auch ein paar „Neu“-Entdeckungen bzw. Wiederentdeckungen. Als Festivalerfahrung muss ich unbedingt noch das slowenische Animateka-Festival hervorheben – ein tolles Erlebnis.

Animationsfilme (kurz)
THE MIRACLE – Nienke Deutz
ZIMA – Tomek Popakul, Kasumi Ozeki
27 – Flóra Anna Buda
NUN OR NEVER – Heta Jäälinoja
HER DRESS FOR THE FINAL – Martina Meštrović
AFTER APPLES – Marta Pajek (20 Jahre Animateka Jubiläumsprogramm)
RUBICON – Gil Alkabetz (Hommage an Gil Alkabetz beim 30. ITFS)
RESSOURCES HUMAINES – Isaac Wenzek, Titouan Tillier, Trinidad Plass
TRESPAS – Paul Wenninger (Carte Blanche Stefan Stratil beim Best Austrian Animation Festival)
THE NIGHT HUNTER – Stacey Steers (Collage Animation Special beim 20. Animateka)

Spielfilme und Lange Animationsfilme
MUMMOLA – Tia Kouvu
NO CHANGES HAVE TAKEN IN OUR LIFE – Xu Jingwei (DOK Leipzig 2023)
THE PLOT AGAINST HARRY – Michael Roemer (unknown pleasures 2023)
DAS JÜNGSTE GEWITTER – Roy Andersson (Roy Andersson-Retrospektive bei den Nordischen Filmtagen 2023)
DIE WERCKMEISTERSCHEN HARMONIEN – Béla Tarr (Ungarn-Retrospektive im Arsenal)
FALLEN LEAVES – Aki Kaurismäki
TRENQUE LAUQUEN 1+2 – Laura Citarella (Invasion-Jubiläumsscreening)
WHITE PLASTIC SKY – Tibor Bánószki und Sarolta Szabó
DAS LEHRERZIMMER – İlker Çatak
SUZUME – Makoto Shinkai 

Dokumentarfilme/Essays (kurz und lang)
NOTRE CORPS – Claire Simon
REVIR – EVERYTHING YOU HOLD DEAR – Peter Hammer (bei den Nordischen Filmtagen gesehen)
APOLONIA, APOLONIA – Lea Glob
FORMS OF FORGETTING – Burak Çevik
DAS PFANDHAUS (LOMBARD) – Łukasz Kowalski
SIEBEN WINTER IN TEHERAN – Steffi Niederzoll
OURS – Morgane Frund
VIENNA CALLING – Philipp Jedicke
BEING A HUMAN PERSON – Fred Scott (bei den Nordischen Filmtagen gesehen)
LYNX MAN – Juha Suonpää (bei den Nordischen Filmtagen gesehen)

Marie Ketzscher

THE ETERNAL DAUGHTER © Sandro Kopp, Paramount

Für mich waren in diesem Jahr die Briten ganz vorne dabei, unter anderem mit AFTERSUN, ALL OF US STRANGERS und THE ETERNAL DAUGHTER, die sich als introspektive Geistergeschichten auf unterschiedliche Weise mit familiärer Erinnerung, Abschied und Vergangenheitsbewältigung auseinandergesetzt haben. Am meisten Freude haben mir sicherlich die Undergroundkino-Odyssee SCALA!!! und DAAAAAALI! bereitet, während THE ZONE OF INTEREST und IN UKRAINE eindrucksvolle filmische Mittel gefunden haben, um Faschismus und kriegerische Konflikte in der Vergangenheit und Gegenwart zu thematisieren. Eine große Wiederentdeckung war JEANNE DIELMAN, 23, QUAI DU COMMERCE, 1080 BRUXELLES, den ich nach der Auszeichnung als „bester Film aller Zeiten“ durch Zeitschrift Sight & Sound endlich einmal im Kino sehen konnte.

Langfilme (fiktional & dokumentarisch)

AFTERSUN – Charlotte Wells
ALL OF US STRANGERS – Andrew Haigh (Around the World in 14 Films)
ALL THE BEAUTY AND THE BLOODSHED – Laura Poitras (Mongay im Kino International)
DAS TIER IM DSCHUNGEL (LA BÊTE DANS LA JUNGLE) – Patric Chiha (Berlinale 2023)
DAAAAAALI! – Quentin Dupieux (BFI London Film Festival 2023)
THE ETERNAL DAUGHTER – Joanna Hogg
IN UKRAINE (W UKRAINIE) – Piotr Pawlus & Tomasz Wolski (Berlinale 2023)
PIAFFE – Ann Oren (19. achtung berlin Filmfestival)
SCALA!!! – Jane Giles & Ali Catterall (BFI London Film Festival 2023)
THE ZONE OF INTEREST – Jonathan Glazer (BFI London Film Festival 2023)

Wiederentdeckungen

JEANNE DIELMAN (JEANNE DIELMAN, 23, QUAI DU COMMERCE, 1080 BRUXELLES) (1975) – Chantal Akerman (Magical History Tour im Kino Arsenal)
TWILIGHT (SZÜRKÜLET) (1990) – György Fehér (Berlinale Classics 2023)

Henning Koch

BARBIE © Warner Bros. Entertainment 2023

BARBIE (Greta Gerwig, USA 2023) – More than Kenough! Blockbuster des Jahres.
BEEF (Lee Sung Jin, Netflix/A24 2023) – Zu was ein wenig aufgestaute Aggression am Steuer doch führen kann! Witzig und tragisch und wütend und am Ende sehr liebenswert. Beste Serie des Jahres.
THE BURMESE HARP (ビルマの竪琴, Kon Ichikawa, JP 1956) – Kriegsfilm ohne heroische Verklärung. Musical mit Männerchor. Pazifistisches Meisterwerk und Oldie des Jahres.
THE FIVE DEVILS (Léa Mysius, FR 2023) – Strange and beautiful. Beste Karaokeszene des Jahres.
THE IRON CLAW (Sean Durkin, USA/UK, 2023) – Wrestlingdrama über die vom Unglück verfolgte Von Erich Familie. Ist es ein Fluch? Keineswegs! It was patriarchy all along! Beste (und meiste) Topfschnittfrisuren des Jahres.
JOYLAND (Sam Sadiq, PK 2022) – Trans-sein in einem Land mit starren Genderregeln. Erzählt ohne eurozentrisch-mitleidigen Blick, jenseits von Opferrollen und Verteuflung pakistanisch-muslimischer Kultur. Exzellente Charakterstudie und queerer Film des Jahres. 
PAST LIVES (Celine Song, USA/KR 2023) – Über Liebe im Präteritum oder ist es doch Präsens? Zwischen Seoul und Brooklyn, Koreanisch und Englisch – bester Liebesfilm seit Langem.
PRISCILLA (Sofia Coppola, USA 2023) – Antwort und Gegenstück zu Baz Luhrmans ELVIS (USA/AU 2022)? Mehr als das! Ein eigenständiger Film, der die Beziehung zwischen der anfangs 14-Jährigen und dem Rock’n’Roll Superstar einfühlsam und ungeschönt betrachtet. Biopic des Jahres. Kinostart 2024.
RENFIELD (Chris McKay, USA 2023)- Graf Draculas Spießgeselle in Gruppentherapie wegen toxischer Beziehungsmuster?! Her damit! Der Nicolas Cage des Jahres.
SUZUME (Makoto Shinkai, JP 2022) – Ein Prinz, der in einen Hocker verwandelt wird, ein Mädchen, das die Welt retten muss. Animationsfilm des Jahres.

Theresa Rodewald

KILLERS OF THE FLOWER MOON © Apple TV+
KILLERS OF THE FLOWER MOON © Apple TV+
  1. KILLERS OF THE FLOWER MOON (USA 2023) R: Martin Scorsese
    Vorab: Es gibt vieles, was ich an dem Film kritisieren kann. Was aber vor allem bleibt, ist ein unglaublich intensives, gut gespieltes und inszeniertes Werk, das mich wie kein anderes in diesem Jahr zu packen vermochte.
  2. BABYLON (USA 2022) R: Damien Chazelle
    Man scheint BABYLON zu lieben oder zu hassen. Für mich ist es ein grandioses Werk, das hoffentlich in einigen Jahren die Rezeption erfährt, die es verdient.
  3. SMOG EN TU CORAZÓN (Argentinien 2022) R: Lucia Seles
    Anarchisch, humorvoll, genial! Ein unglaublicher Film, der mich beim Zuschauen beeindruckt und gleichzeitig wahnsinnig viel Spaß gemacht hat. Ein Juwel.
  4. PASSAGES (Frankreich 2023) R: Ira Sachs
    Franz Rogowski spielt sehr stark. Es ist selten, ihn in einer Antagonistenrolle wie hier zu sehen, und sein Spiel trägt PASSAGES und macht den Film dadurch sehr eindrucksvoll.
  5. GREEN NIGHT(2023 Hongkong, China) R: Han Shuai
    Ein toll gespieltes, gut inszeniertes Drama, das sein Sujet und seine Protagonistinnen sehr ernst nimmt.
  6. DAS LEHRERZIMMER (2023, Deutschland) R: İlker Çatak
    Fantastisch. Ein wirklich intelligent geschriebener Film.
  7. ROTER HIMMEL (2023, Deutschland) R: Christian Petzold
    Ein Protagonist, der sich so konstant selbst im Weg steht, dass das allein schon sehr lustig ist. Hinzu kommt eine fabelhaft leichte Sommer-Atmosphäre, die immer wieder durchbrochen wird. Und eine beeindruckend subtil spielende Paula Beer.
  8. DISCO BOY (Frankreich, Belgien, Polen, Italien) R: Giacomo Abbruzzese
    Vielschichtiges Spielfilmdebüt von Giacomo Abbruzzese mit einem einnehmenden Franz Rogowski.
  9. RETURN TO SEOUL (Belgien, Deutschland, Frankreich 2022) R: Davy Chou
    Eine junge Frau auf der schmerzhaften Suche nach ihrer Identität.
  10. PAST LIVES (USA 2023) R: Celine Song
    Ein rührendes, authentisches Melodram über zwei Menschen, die in einem anderen Leben vielleicht zusammenfinden würden.

Honourable Mention: DIE KAIRO VERSCHWÖRUNG (Schweden, Frankreich, Finnland, Dänemark) R: Tarik Saleh
Kein gefälliger, aber sehr gut und ernsthaft geschriebener Film, der stellenweise auch durch seine Kameraeinstellungen zu beeindrucken weiß.

Michaela Grouls

© 20 Days in Mariupol/HRFFB
© 20 Days in Mariupol/HRFFB

Cinema is BACK und zwar im großen Stil. Bevor ich hier meine persönliche Top Ten vorstelle, zunächst einige honourable mentions, Filme, die es nicht unter die ersten zehn geschafft haben, die ich aber in 2023 nicht missen wollte: A THOUSAND AND ONE, ACHT BERGE, EL CONDE, INFINITY POOL, JOHN WICK – CHAPTER 4,  KILL BOKSOON, PASSAGES, PEARL, SUZUME, TALK TO ME, THE KILLER und TÓTEM.

Wenden wir uns erstmal den besten Dokumentarfilmen zu:

5. 20 DAYS IN MARIUPOL (Ukraine 2023) R: Mstyslav Chernov – ein aufwühlende Zeitdokument, dass den Überlebenskampf der Ukraine gegen Russland dokumentiert.
4. GOING TO MARS: THE NIKKI GIOVANNI PROJECT (USA 2023) R: Joe Brewster & Michèle Stevenson – ein essayistisches Porträt der bedeutenden afroamerikanischen Poetin und Aktivistin Nikki Giovanni, das sich ihrem Leben (soweit sie es zulässt) vor allem aber ihrer Kunst nähert und mich (Lyrik-Muffel, der ich bin) motivierte, mir gleich nach der Vorstellung ein Buch von ihr zu kaufen.
3. STILL: A MICHAEL J. FOX MOVIE (USA 2023) R: Davis Guggenheim – ein berührendes Porträt des beliebten Stars der 80er Jahre, der seit mehr als 30 Jahren mit der schrecklichen Diagnose Parkinson lebt. Ungeschminkt lässt Fox das Publikum an seinem Werdegang und seinen Erfolgen, vor allem aber an den Folgen seiner Krankheit teil haben, reflektiert über Fehler der Vergangenheit, wie auch das Glück, von einer ihn liebenden Familie umgeben zu sein und hat sich trotz seines schweren Schicksals seinen Humor bewahrt.
2. APOLONIA, APOLONIA (Dänemark 2022) R: Lea Glob – das Langzeitporträt der jungen Künstlerin Apolonia Sokol, ihre ersten Erfolge in Paris, den Besuch der Kunstschule, den Beinahe-Ausverkauf an den Kunstmark und schließlich den schmerzhaften Prozess der Selbstfindung. In den 13 Jahren, in denen Glob immer wieder das Gespräch mit Sokol sucht, entsteht eine tiefe Freundschaft, die zwischenzeitlich auch die Femen-Aktivistin Oksana Shashko einschließt. Die Frauen reflektieren dabei über Weiblichkeit, Liebe, Sexualität und Kreativität und ihren Platz in einer Welt, die von Patriarchat, Kapitalismus und Krieg dominiert wird.
1. BEYOND UTOPIA (USA 2023) R: Madeleine Gavin – der eine Gruppe von Nordkoreanern bei ihrer Flucht aus der Diktatur begleitet. Organisiert von einem südkoreanischen Pfarrer wurden die Flüchtlinge und die chinesischen Fluchthelfer mit Kameras ausgestattet, um ihren gefährlichen Weg in die Freiheit selbst zu dokumentieren. Das Ergebnis ist ein Thriller, der nie aus den Augen verliert, welch unmenschlichem System die Flüchtlinge zu entkommen suchen und welchen Gefahren sie bei ihrer Flucht durch das mit Nordkorea verbündete China permanent ausgesetzt sind.

Kommen wir nun aber abschließend zu meinen zehn Lieblings(spiel)filmen 2023 und weil es bei einer Top Ten immer mindestens einen Film gibt, der hier eigentlich auch noch rein gehört (aber Mathematik ist grausam – es gibt eben nur zehn Plätze), sei an dieser Stelle noch Martin Scorseses KILLERS OF THE FLOWER MOON erwähnt.

10. WOMEN TALKING (USA 2022) R: Sarah Polley – in dem eine Gruppe von Frauen versucht, eine Antwort auf die fortwährende Unterdrückung und den sexuellen Missbrauch in ihrer Mennonitengemeinde zu finden. Als männlicher Zuschauer verhält man sich am besten wie Ben Whishaw im Film: hinsetzen – zuhören – lernen. Sarah Polley gewann für ihr starkes Drehbuch im März einen Oscar.
9. ALL OF US STRANGERS (GB 2023) R: Andrew Haigh – in dem ein Autor seine vor langer Zeit verstorbenen Eltern wiedertrifft und zeitgleich eine Affäre mit einem deutlich jüngeren Nachbarn hat. Einfühlsam inszeniert und stark besetzt, reflektiert Haigh in seinem neuen Film über Einsamkeit, unausgesprochene Wahrheiten und vermeintlichen gesellschaftlichen Fortschritt. Im besten Fall wird man nach diesem Film Frankie Goes To Hollywood’s „The Power Of Love“ nie wieder mit Weihnachten verbinden.
8. BARBIE (USA 2023) R: Greta Gerwig – das Kinowunder und ein Teil der spektakulärsten Erfolgsgeschichte dieses Sommers. Allen Unkenrufern zum Trotz ist dieser Film über eine umstrittene Plastikpuppe (fast) perfekte Unterhaltung, serviert auf einem smarten Drehbuch und garniert mit zahlreichen popkulturellen Querverweisen. Feminismus – leicht verdaulich, nachhaltig und wirkungsvoll unters Volk gebracht. Das Woke-Epos des Jahres.
7. BEAU IS AFRAID (USA 2023) R: Ari Aster – der lustigste Film des Jahres. Punkt.
6. SPIDER-MAN: ACROSS THE SPIDER-VERSE (USA 2023) R: Joaquim Dos Santos, Kemp Powers & Justin K. Thompson – der zweite Teil einer im kommenden Frühjahr abzuschließenden Trilogie. Aufbauend auf INTO THE SPIDER-VERSE (2018) ist dieser Film ein animatorisches Wunderwerk voller brillanter Ideen, das geradezu ein Füllhorn an diversen Animations-Stilen ausschüttet und zu einer packenden Geschichte verbindet, deren Ausgang wir erst in einigen Monaten mit BEYOND THE SPIDER-VERSE erfahren werden. Bis dahin bleibt uns nur, diesen rauschhaften und berauschenden Film immer und immer wieder zu genießen, der so viel besser ist als alle MARVEL-Filme zusammen.
5. ANATOMIE EINES FALLS (F 2023) R: Justine Triet – in dem eine Frau des Mordes an ihrem Mann beschuldigt wird. Was als Krimi beginnt, wandelt sich zum Justizthriller, zum Ehedrama und schließlich zu einer Reflexion über die Wechselwirkung von Kunst und Realität. Sandra Hüller zeigt als hochintelligente, manipulative Angeklagte die vielleicht beste Performance des Jahres und Milo Machado Graner als ihr fast blinder minderjähriger Filmsohn ist eine Offenbarung. Triet gewann dafür im Mai als erst dritte Frau die Goldene Palme in Cannes.
4. OPPENHEIMER (USA 2023) R: Christopher Nolan – der wohl unwahrscheinlichste Megablockbuster des Jahres: drei Stunden talking heads und zwischendurch eine fette Explosion. Doch wenn Einer seinem Publikum ein komplexes Porträt in einer verästelten, eliptischen Erzählstruktur zumuten kann, dann ist das wohl Nolan. Mit seinem Epos über den Erfinder und die Erfindung der Atombombe hat Nolan sein Meisterwerk vorgelegt und gilt, durchaus zu recht, als zur Zeit aussichtsreichster Kandidat für den Oscar.
3. TÀR (USA 2022) R: Todd Field – in dem Cate Blanchett als charmant-kultivierte, hochintelligente Star-Dirigentin ihr Umfeld schamlos und missbräuchlich manipuliert. Zu Beginn des Films steht sie im Zenit ihrer Karriere. Doch dann beginnt, zunächst in Zeitlupe, dann immer mehr Fahrt aufnehmend, ein grandioser Absturz. Sechzehn Jahre nach seinem Meisterwerk LITTLE CHILDREN meldete sich Todd Field mit diesem brillanten (seinem dritten) Film zurück und man kann nur hoffen, dass der nächste nicht so lange auf sich warten lässt.
2. PAST LIVES (USA 2023) R: Celine Song – in dem die aus Südkorea stammende Nora ihre Jugendliebe Hae Sung wiedertrifft und die beliebte Frage „Was wäre wenn…?“ im Raum steht. Unaufgeregt, aber mit viel Empathie lässt Song ihre drei Protagonisten (neben den beiden Koreanern auch Noras amerikanischer Ehemann Arthur) diese für alle Beteiligten hochemotionale Begegnung durchspielen. Wie Nora sich entscheidet, sei hier nicht verraten. Nur soviel: das Leben ist nicht immer gerecht und da es in diesem wunderbaren Film keinen Antagonisten gibt, kann das Happy End nur ein bittersüßes sein. Eigentlich ist PAST LIVES mein Lieblingsfilm 2023. Ich kann aber nicht umhin, anzuerkennen, dass…
1. THE ZONE OF INTEREST (GB 2023) R: Jonathan Glazer – … ein formal wie inhaltlich radikales Meisterwerk, ein faszinierender Monolith in der Kinolandschaft des Jahres 2023 ist. Glazers vierter Spielfilm, sein erster seit UNDER THE SKIN (2013), führt uns direkt an den dunkelsten Ort der Geschichte und lässt uns dort als stille Beobachter am erschreckend grausam-banalen Leben der Täter teilhaben. Nichts, was man zuvor über diesen Film gehört oder gelesen hat, bereitet auf das immersive Erlebnis von THE ZONE OF INTEREST vor. Spätestens nach diesem Film sollte Jonathan Glazer zu den besten derzeit arbeitenden Regisseuren gezählt werden. In Cannes gab es dafür den Großen Preis des Festivals.

Thomas Heil

ROTER HIMMEL © Christian Schulz : Schramm Film
ROTER HIMMEL © Christian Schulz : Schramm Film

1 Daaaaaali! – Quentin Dupieux
2 Kalman’s Day [+] – Szabolczs Hadju (Hungary/Slovakia/USA)
3 Manga D’Terra [+] – Basil Da Cunha (Switzerland/Portugal)
4 Afire – Christian Petzold
5 Aller Tage Abend [+] – Felix Tissi (Switzerland/Italy)
6 Yannick [+] – Quentin Dupieux (France)
7 If Only I Could Hibernate [+] – Zoljargal Purevdash (Mongolia/France)
8 About Dry Grasses – Nuri Bilge Ceylan
9 Fallen Leaves – Aki Kaurismäki
10 Four Daughters – Kaouther Ben Hania

Teresa Vena

Disclaimer: Teresa Vena’s Best-Of erschien zuerst bei Cineuropa und umfasst „lediglich“ europäische Produktionen.